Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
Vom Netzwerk:
wie Ge-birgsdonner grollte.
    Er grub seine harten Finger so fest in meinen Arm, daß es
    schmerzte. Er hielt sich weit über das Geländer gebeugt und starrte
    wie ein Irrer hinunter ins Wasser; sein Gesicht war so weiß, wie es
    seine Wetterbräune eben zuließ. Ich blickte mit ihm ins Wasser hin‐
    ab, zu dem Rand des überfluteten Holzgerüsts.
    An der Kante dieses grünen versunkenen Bretterbodens schwamm
    etwas träge aus der Finsternis, schien zu zögern und tauchte wieder
    weg unter das Holz ins Unsichtbare.
    Das Etwas hatte nur allzu sehr einem menschlichen Arm gleichge‐
    sehen.
    Bill Chess richtete seinen Körper steif auf. Er drehte sich, ohne ei‐
    nen Ton von sich zu geben, um und humpelte vom Pier hinunter. Er
    beugte sich über einen Haufen loser Felsbrocken und versuchte,
    einen davon zu lockern. Sein keuchender Atem drang bis zu mir. Es
    gelang ihm, einen großen Stein loszubekommen, und er hievte ihn in Brusthöhe und kam damit zurück. Der Stein mußte fast hundert
    51
    Pfund wiegen. Bills Halsmuskeln traten wie Leinen durch ein Segel
    unter seiner straff gespannten braunen Haut hervor. Er hatte die Zähne fest zusammengebissen, und sein Atem keuchte.
    Er erreichte den Rand des Piers, stützte sich ab und hob den Stein
    hoch. Er hielt ihn einen Augenblick lang in der Balance, während seine Augen hinunterstarrten und Maß zu nehmen schienen. Sein
    Mund gab einen unbestimmten jämmerlichen Laut von sich, und
    sein Körper taumelte nach vorn und stieß jäh gegen das erzitternde
    Geländer: der schwere Stein schlug klatschend ins Wasser.
    Das hochspritzende Wasser erwischte uns beide. Der Stein sank
    gerade, fast zuverlässig, und traf die versunkenen Planken ziemlich
    genau an der Stelle der Kante, wo vorher das Etwas hervorge‐
    schwommen und wieder untergetaucht war.
    Für einen Augenblick herrschte im Wasser nur ein brodelndes
    Durcheinander, dann zogen sich die Wellenkreise immer weiter
    auseinander, die Wellen wurden kleiner und kleiner; sie umgaben einen Schaumwirbel in der Mitte; ein dumpfer Laut war zu hören, wie wenn Holz in Wasser bricht. Doch dieser Laut schien verspätet
    zu uns zu dringen, eine lange Zeit, nachdem er hätte zu hören sein
    müssen. Eine uralte, halbverfaulte Planke stieß plötzlich durch die Wasseroberfläche, ein ganzes Stück ihrer zersplitterten Spitze trat aus dem Wasser, fiel dann mit einem seichten Platschen zurück und
    drehte ab.
    Die Tiefe wurde wieder klar und durchsichtig. In ihr bewegte sich
    etwas, das kein Brett war. Es stieg langsam empor, mit schier un-endlich gleichgültiger Trägheit, ein langes dunkles torkelndes Etwas, das sich faul im Wasser drehte, während es aufstieg. Es durch‐
    stieß die Wasseroberfläche wie zufällig und leicht und ohne jegliche
    Hast. Ich sah nasse schwarze Wolle, dann eine Lederjacke, schwär‐
    zer als Tusche, Hosen. Ich sah Schuhe und ich sah etwas ekelhaft Gedunsenes zwischen den Schuhen und den Hosenaufschlägen. Ich
    sah eine Woge dunkelblonden Haars, das sich im Wasser schlän‐
    52
    gelnd strähnte und für einen kurzen Augenblick so blieb, so als handle es sich um eine vorausberechnete Wirkung, um sich dann
    wieder wirbelnd zu verwirren.
    Das Etwas drehte sich noch einmal im Wasser, und ein Arm tau‐
    melte empor und ragte ein wenig aus dem Wasser. Und der Arm
    endete in einer aufgedunsenen Hand, der Hand eines Monstrums.
    Dann kam das Gesicht. Eine verquollene, breiige, weißgraue Masse
    ohne Gesichtszüge, ohne Augen, ohne Mund. Ein Haufen grauer
    Teig, ein Nachtmahr mit menschlichem Haar.
    Ein schweres Halsband aus grünen Steinen deutete an, wo früher
    der Hals gewesen sein mußte, große, grüne, grobe Steine, halb‐
    versunken in dem Brei, dazwischen glitzerte, was sie zusammen‐
    hielt.
    Bill Chess hielt das Geländer umklammert. Seine Fingerknöchel
    sahen wie blankpoliertes Gebein aus.
    »Muriel!« rief er mit krächzender Stimme. »Guter Gott, es ist Mu‐
    riel!«
    Mir schien seine Stimme von weither zu kommen – über einen
    Berg, durch das dichte, schweigende Wachsen eines Waldes.

    Hinter dem Fenster der Bretterbaracke sah man auf dem einen Ende
    eines langen Schaltertischs einen Haufen staubiger Akten liegen.
    Das Glasfenster in der oberen Türhälfte war mit inzwischen halb abgeblätterten schwarzen Buchstaben bemalt: Polizeichef. Feuer-wehrhauptmann. Stadthauptmann. Handelskammern In der unte‐
    ren Fensterecke war eine Straßenkarte und ein rotes Kreuz von innen an die Scheibe

Weitere Kostenlose Bücher