Die Tote im See
und blieb ein paar Stunden weg. Als er
zurückkam, war sie verschwunden. Er hat sie nicht mehr wiederge‐
sehen.«
»Ich verstehe. Und wer sind Sie, mein Sohn?«
»Ich heiße Marlowe. Ich bin aus L. A. um nach dem Anwesen von
Kingsley zu sehen. Er hatte mir ein paar Zeilen für Bill Chess mitge‐
geben. Er hat mich um den See herumgeführt, und wir gingen auch
auf den kleinen Pier, der von den Filmleuten gebaut wurde. Wir lehnten am Geländer und sahen ins Wasser, und etwas, was aussah
wie ein Arm, schwamm unter dem untergegangenen Bretterboden,
dem alten Bootsanlegeplatz, hervor. Bill warf einen schweren Stein ins Wasser, und der Körper tauchte auf.«
Patton sah mich an, ohne eine Miene zu verziehen.
»Hören Sie, Sheriff, sollten wir nicht besser schnell hinfahren. Der
Mann hat einen Schock. Er ist fast verrückt und ganz allein.«
»Wieviel Schnaps hat er?«
»Sehr wenig, als ich wegging. Ich hatte eine Flasche, aber das mei‐
ste davon haben wir beim Unterhalten ausgetrunken.«
Er ging hinüber zu seinem Rolldeckelschreibtisch und schloß eine
Schublade auf. Er holte drei oder vier Flaschen heraus und hielt sie
gegen das Licht.
»Dieses Baby ist beinahe voll«, sagte er, während er sie tätschelte.
»Mount Vernon. Der wird ihn auf den Beinen halten. Das County bewilligt mir kein Geld für Alkohol bei dringenden Notfällen, so bleibt mir nichts anderes übrig, als ab und zu ein bißchen zu be-56
schlagnahmen. Nicht für mich. Ich habe Leute nie verstehen können,
die sich mit so was selbst belügen.«
Er verstaute die Flasche in seiner linken Hüfttasche, schloß den Schreibtisch ab und hob die Durchgangsklappe im Schaltertisch.
Dann befestigte er ein Kartonstück an der Innenscheibe der Tür.
Beim Rausgehen las ich: ›zurück in zwanzig Minuten – vielleicht‹
»Ich werde runterfahren und Doc Hollis holen. Bin gleich wieder zurück und nehme Sie dann mit. Ist das Ihr Wagen?«
»Ja.«
»Dann können Sie uns nachfahren, wenn ich zurückkomme.«
Er stieg in einen Wagen, der oben eine Sirene hatte, ferner zwei ro‐
te Stopplichter, zwei Nebelscheinwerfer, ein rotweißes Feuersignal und ein neues luftgetriebenes Riesenhorn; drei Äxte, zwei Rollen schwerer Seile und einen Feuerlöscher auf dem Rücksitz, daneben Kanister für Benzin, Öl und Wasser auf einem Rahmen am Trittbrett; ein zusätzliches Reserverad war auf das übliche Reserverad am Heck draufgeschnürt. Aus der Polsterung kroch die Füllung in schmutzigen Büscheln, und fingerdicker Staub bedeckte, was von
der Lackierung noch übrig war.
Hinter der Windschutzscheibe, unten in der rechten Ecke, klebte ein weißes Schild, auf dem in Großbuchstaben stand: ›ACHTUNG
WÄHLER! BEHALTET JIM PATTON ALS SHERIFF! ZUM ARBEITEN IST ER ZU
ALT!‹
Er wendete und raste in einem Wirbel weißen Staubs die Straße hinunter.
Er hielt vor einem weißen Holzhaus, das gegenüber dem Gemein‐
dedepot lag. Er ging in das weiße Haus und kam augenblicklich wieder zusammen mit einem Mann heraus, der sich auf den Rücksitz zwischen die Äxte und Seile zwängte. Der Dienstwagen kam die
Straße wieder herauf, und ich hängte mich an ihn. Wir siebten uns
durch den Hauptstrom von Freizeithemden und Shorts und Matro‐
senpullovern, durch geknotete Kopftücher, knotige Knie und knall‐
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rote Lippen. Hinter dem Ort fuhren wir einen staubigen Hügel hoch
und hielten vor einem Holzhaus. Patton ließ die Sirene kurz aufheu‐
len, und ein Mann in einem verblichenen blauen Overall öffnete die
Haustür.
»Steig ein, Andy! Es gibt Arbeit.«
Der Mann im blauen Overall nickte grämlich und bückte sich zu‐
rück ins Haus. Als er wieder herauskam, trug er einen austernfarbe‐
nen Löwenjägerhelm und schob sich hinter das Steuer von Pattons Wagen, während Patton zur Seite rutschte. Er war ungefähr dreißig,
dunkel, schlank und machte den leicht vernachlässigten und leicht unterernährten Eindruck der Gebirgsbewohner.
Wir fuhren hinaus zum Little Fawn Lake, wobei ich soviel Staub schluckte, daß man daraus einen ganzen Satz Pulverkuchen hätte
backen können. An dem fünfstämmigen Gatter stieg Patton aus und
ließ uns durch, dann fuhren wir weiter zum See. Wieder stieg Patton
aus, ging ans Ufer und blickte in Richtung des kleinen Piers. Bill Chess saß nackt auf dem Boden und hielt seinen Kopf in den Händen. Etwas Ausgestrecktes lag auf den nassen Planken neben ihm.
»Wir können noch ’n Ende weiter fahren«, sagte
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