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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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geklebt.
    Ich trat ein. In der einen Ecke stand ein dickbauchiger Eisenofen, und in der anderen, hinter dem langen Schaltertisch, stand ein Schreibtisch mit Rolldeckel. An der Wand hing eine riesige blauge-druckte Karte des Distrikts und neben ihr ein Brett mit vier Haken;
    an einem der Haken hing ein ausgefranster und oft geflickter dicker
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    Wollumhang. Auf dem langen Schaltertisch, neben den verstaubten
    Akten, lag, wie zu erwarten, der übliche abgenutzte Federhalter, eine verkleckste Löschunterlage und eine verschmierte Tin-tenflasche. Die Wand neben dem Tisch war mit Telefonnummern
    bekritzelt. Sie waren beim Schreiben so fest eingedrückt worden, daß man sie nur zusammen mit den Holzbrettern hätte entfernen
    können, und sahen aus, als hätte sie ein Kind geschrieben.
    Ein Mann saß am Tisch, in einem Armsessel aus Holz, dessen Bei‐
    ne an flachen Brettern verankert waren, sowohl vorne wie hinten, wie Skier. Ein Spucknapf, groß genug, um einen Feuerwehrschlauch
    hineinzuwickeln, stand beim rechten Fuß des Mannes. Er hatte sei‐
    nen schweißfleckigen Stetson‐Hut in den Nacken geschoben und
    seine großen unbehaarten Hände gemütlich über dem Bauch gefal‐
    tet, genau über dem Bund von ein Paar Khakihosen, die viele Jahre
    dünngescheuert hatten. Sein Hemd paßte zu den Hosen, außer daß
    es noch abgewetzter war. Es war bis hinauf zum dicken Hals fest zugeknöpft und wurde von keiner Krawatte dekoriert. Sein Haar
    war mausbraun, außer an den Schläfen; dort hatte es die Farbe von
    altem Schnee. Er saß mehr auf seiner linken als auf seiner rechten Gesäßhälfte, weil er dort ein Riesenhalfter hatte, das in seine rechte
    Hüfttasche führte. Einige Zoll seiner 45 er Kanone ragten heraus und bohrten sich in seinen kräftigen Rücken. Sein Sheriffstern auf der linken Brustseite hatte einen verbogenen Zacken.
    Er hatte große Ohren und freundliche Augen, seine Kinnbacken
    bewegten sich gemächlich, und er sah so bedrohlich aus wie ein Eichhörnchen, war aber weit weniger nervös. Alles an ihm gefiel mir. Ich lehnte mich gegen den Schaltertisch und schaute ihn an, und er schaute mich an und nickte und spuckte einen halben Liter Tabaksaft haarscharf an seinem rechten Fuß vorbei in den Spucknapf. Es klang so unangenehm, wie wenn etwas ins Wasser fällt.
    Ich zündete mir eine Zigarette an und sah mich suchend nach ei‐
    nem Aschenbecher um.
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    »Nehmen Sie nur den Fußboden, mein Sohn«, sagte der große
    freundliche Mann.
    »Sheriff Patton?«
    »Stadthauptmann und gewählter Sheriff. Was hier in der Gegend
    an Gesetz nötig ist, das vertrete ich. Doch es sind sowieso bald Wah‐
    len. Und es gibt einen Haufen tüchtiger junger Leute, die diesmal gegen mich antreten werden, und, wups!, könnte ich hier weg sein.
    Der Posten bringt achtzig den Monat, dann das Haus, Brennholz
    und Strom frei. Das ist kein Pappenstiel, hier in den guten alten Ber‐
    gen.«
    »Niemand wird Sie abwählen«, sagte ich. »Sie werden bald eine
    Menge Publicity bekommen.«
    »Ist das wahr?« fragte er gleichgültig und traktierte erneut seinen
    Spucknapf.
    »Es ist wahr, falls sich Ihre Verantwortlichkeit auch über den Little
    Fawn Lake erstreckt.«
    »Das Grundstück von Kingsley? Aber sicher. Gibt’s dort irgend‐
    welchen Ärger, mein Sohn?«
    »Eine tote Frau im See.«
    Das traf ihn ins Mark. Er nahm seine Hände auseinander und
    kratzte sich am Ohr. Er kam zu stehen, indem er sich auf die Arm‐
    lehne seines Stuhls stützte und dann den Stuhl mit einem Tritt nach
    hinten schob. Wie er so dastand, war er ein großer und starker Mann. Fett hatte er nur als freundliche Dreingabe.
    »Jemand, den ich kenne?« fragte er ernst.
    »Muriel Chess. Ich vermute, Sie kannten sie. Sie war die Frau von
    Bill Chess.«
    »Ja, ich kenne Bill Chess«, seine Stimme wurde etwas härter.
    »Es sieht so aus, als ob es Selbstmord wäre. Sie hat ein paar Zeilen
    hinterlassen, die so klingen, als ob sie ihm abhauen wollte. Aber es
    könnte ebensogut ein Abschiedsbrief vor einem Selbstmord sein. Sie
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    ist kein schöner Anblick. Hat lange im Wasser gelegen. Ungefähr einen Monat, nach den Umständen zu urteilen.«
    Er kratzte sich am ändern Ohr. »Was für Umstände meinen Sie?«
    Seine Augen erforschten jetzt mein Gesicht. Sie blickten langsam und ruhig, aber durchdringend. Er schien keine Eile zu haben, seine
    Sirene losheulen zu lassen.
    »Die beiden haben sich vor rund einem Monat gestritten. Danach
    fuhr er rüber zum Nordufer

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