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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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vielleicht im Sommer, wenn hier ’n
    Haufen Fremde sind.«
    Eine Zeitlang sagte niemand etwas, und dann sagte Patton beiläu‐
    fig: »Sagten Sie nicht, daß sie Sie am 12. Juni verlassen hat? Vielmehr, daß Sie glaubten, sie hätte Sie verlassen? Daß die Leute hier auf der anderen Seite des Sees damals noch hier waren, sagten Sie doch auch?«
    Bill Chess sah mich an, und sein Gesicht verfinsterte sich wieder.
    »Fragen Sie doch den Schnüffler da, wenn der sich nicht schon bis auf die Eingeweide vor Ihnen entleert hat.«
    Patton sah mich überhaupt nicht an. Er blickte zu den Umrissen der Berge weit hinter dem See. Er sagte höflich: »Mr. Marlowe hier
    hat mir überhaupt nichts erzählt, außer wie die Leiche aus dem Wasser herausgekommen ist und um wen es sich handelt. Und daß
    Sie gedacht haben, Muriel sei weggegangen. Und daß sie einen Zet‐
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    tel hinterlassen hat, den Sie ihm gezeigt hatten. Ich glaube nicht, daß dabei irgend etwas nicht in Ordnung war. Oder sind Sie anderer Meinung?«
    Wieder war es länger still, und Bill Chess blickte zu dem bedeck‐
    ten Leichnam hinunter, der nur wenige Schritte von ihm entfernt lag. Er verschraubte seine Hände, und eine dicke Träne lief über seine Backe.
    »Mrs. Kingsley war hier«, sagte er. »Sie ist am gleichen Tag hinun‐
    tergefahren. In den anderen Häusern war niemand. Die Perrys und
    die Farquhars waren dieses Jahr überhaupt noch nicht hier.«
    Patton nickte und schwieg. Eine Art lastender Leere hing in der Luft, als ob etwas ungesagt geblieben wäre, was ihnen allen klar war
    und deshalb nicht gesagt zu werden brauchte.
    Dann wurde Bill Chess heftig: »Nehmt mich doch fest, ihr Huren‐
    söhne! Klar war ich’s! Ich hab sie ertränkt. Sie war mein Mädchen, und ich liebte sie. Ich bin ein Dreckskerl, war immer ein Dreckskerl
    und werd immer ein Dreckskerl bleiben. Aber trotzdem hab ich sie
    geliebt. Wahrscheinlich versteht ihr Typen das nicht. Und ihr
    braucht’s auch erst gar nicht zu versuchen. Nehmt mich fest, ihr verfluchten…«
    Niemand sagte auch nur ein Wort.
    Bill Chess sah auf seine harten braunen Fäuste hinunter. Er riß sie
    heftig hoch und schlug sich mit voller Kraft ins Gesicht.
    »Du verkommener Hurensohn«, keuchte er mit rauhem Flüstern.
    Seine Nase begann langsam zu bluten. Er stand da, und das Blut lief ihm über die Lippen, an einem Mundwinkel vorbei zu seiner Kinnspitze. Ein Tropfen fiel träge auf sein Hemd.
    Patton sagte ruhig: »Ich muß Sie zum Verhör mit hinunter neh‐
    men, Bill. Sie wissen das. Wir beschuldigen Sie keiner Straftat, aber
    die Leute unten werden sich mit Ihnen unterhalten müssen.«
    Bill Chess sagte schwerfällig: »Kann ich andere Sachen anziehen?«
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    »Sicher. Begleite ihn, Andy! Und schau dich um, ob du etwas fin‐
    dest, womit wir das da hier einschlagen können.«
    Die beiden gingen weg, den Weg entlang, der zur Seespitze führte.
    Der Doktor räusperte sich, blickte über das Wasser und seufzte.
    »Jim, du willst doch, daß ich den Leichnam in meinem Ambu‐
    lanzwagen runterschaffen lasse?«
    Patton schüttelte den Kopf: »Nein. Dies hier ist ein armes Gebiet,
    Doc. Ich denke mir, daß die Dame billiger runterfahren kann, als wenn wir deine Ambulanz dafür bezahlen müssen.«
    Der Doktor entfernte sich ärgerlich und sagte über die Schulter:
    »Laß es mich wissen, wenn du meinst, daß ich vielleicht auch noch
    das Begräbnis bezahlen soll.«
    »So mußt du nicht reden«, seufzte Patton.

    Das Indian Head Hotel war ein braunes Gebäude und stand an einer
    Straßenecke, gegenüber einem neuen Tanzlokal. Ich parkte vor dem
    Hotel, suchte die Toiletten auf, um mir Gesicht und Hände zu waschen und mir die Tannennadeln aus dem Haar zu kämmen, bevor
    ich das Restaurant, das direkt an die Hotelhalle anschloß, betrat. Der
    Raum war randvoll von Männern mit Freizeitjacken und Schnaps‐
    fahnen und Frauen, die schrill lachten, ochsenblutrote Fingernägel und schmutzige Knöchel hatten. Der Manager des Lokals, der wie ein beinharter Typ, aber zu stark herabgesetztem Preis wirkte, stand
    in Hemdsärmeln und mit der obligaten abgekauten Zigarre herum
    und ließ ein Paar aufmerksame Augen durch den Raum spazieren.
    An der Kasse führte ein blaßhaariger Mann einen verzweifelten
    Kampf, um seinem kleinen Radio die Nachrichten vom Kriegsge‐
    schehen zu entlocken, die in atmosphärischen Störungen ersoffen
    wie der Kartoffelbrei im Wasser. In der entfernten hinteren Ecke versuchte eine

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