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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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hinein, legte das Seidenpapierpäckchen auf seinen Schaltertisch und öffnete es.
    »Sie sind nicht tief genug in den Puderzucker gestiegen«, sagte ich.
    Er blickte auf das kleine goldene Herz, sah mich an, ging hinter seinen Tisch und griff sich ein billiges Vergrößerungsglas von seinem Schreibtisch. Dann studierte er die Rückseite des Herzens. Er legte das Glas weg und sah mich grimmig an.
    »Ich hätte’s wissen müssen: Wenn Sie sich in den Kopf gesetzt ha‐
    ben, das Haus zu durchsuchen, dann tun Sie’s auch«, sagte er
    schroff. »Sie wollen mir doch keinen Kummer machen, mein Sohn?«
    »Sie hätten merken müssen, daß die zertrennten Enden des Kett‐
    chens nicht zusammenpassen«, sagte ich ihm.
    Er sah mich traurig an. »Mein Sohn, ich habe nicht mehr Ihre Au‐
    gen.« Er schob das kleine Herz mit seinen breiten, eckigen Fingern herum. Er schaute mich an und sagte nichts.
    Ich sagte: »Wenn Sie glauben sollten, daß das Fußkettchen was
    darstellt, worauf Bill hätte eifersüchtig werden können, dann denken Sie dasselbe, was ich auch gedacht habe – vorausgesetzt, er hat’s
    je zu Gesicht bekommen. Aber ganz im Vertrauen, ich möchte wet‐
    ten, daß er’s nie gesehn hat und daß er nie von Mildred Haviland gehört hat.«
    Patton sagte bedächtig: »Sieht fast so aus, als ob ich mich bei De Soto entschuldigen müßte. Was meinen Sie?«
    »Wenn Sie ihm je wieder übern Weg laufen.«
    Er schenkte mir noch einen langen ausdruckslosen Blick, und ich gab ihm fast den gleichen zurück. »Erzählen Sie mir’s nicht, mein Sohn!« sagte er. »Lassen Sie mich selbst drauf kommen, daß Sie ’ne
    funkelnagelneue Theorie auf Lager haben.«
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    »Genau. Bill hat seine Frau nicht ermordet.«
    »Nicht?«
    »Nein. Sie ist von jemand ermordet worden, der aus ihrer Vergan‐
    genheit auftauchte. Jemand, der ihre Spur verloren hatte und sie dann wieder fand. Mit einem anderen Mann verheiratet wiederfand.
    Und dem das nicht paßte. Jemand, der die Gegend hier oben kennt –
    wie hundert andre auch, die nicht ständig hier leben. Und der eine
    gute Stelle wußte, um das Auto und die Kleider zu verstecken. Jemand, der haßte und sich dabei gut verstellen konnte. Der sie über‐
    redete, mit ihm wegzugehn, und der sie, nachdem alles bereit und der Zettel geschrieben war, an der Gurgel packte und ihr das gab, was sie seiner Meinung nach verdient hatte. Und der sie in den See
    steckte und dann verschwand. Wie gefällt Ihnen das?«
    »Na ja«, sagte er einsichtig, »es kompliziert die Dinge ein bißchen,
    meinen Sie nicht auch? Aber es ist nicht ausgeschlossen. Kein biß‐
    chen ausgeschlossen.«
    »Wenn Sie die Nase davon voll haben, lassen Sie mich’s wissen.
    Ich werd mir dann eben was Neues einfallen lassen«, sagte ich.
    »Da bin ich verdammt sicher, daß Ihnen schon noch was einfallen
    wird«, sagte er, und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, lachte er.
    Ich sagte nochmals gute Nacht und ging hinaus und ließ ihn mit seinen Gedanken zurück, die er mit der wuchtigen Kraft umwälzte,
    mit der ein Siedler einen Baumstumpf rodet.
    So etwa um elf Uhr kam ich unten im Tal an und parkte in einer
    engen Seitenstraßenschlucht beim Prescott Hotel in San Bernardino.
    Ich zerrte meine Reisetasche aus dem Kofferraum und hatte gerade
    drei Schritte mit ihr gemacht, als ein Hoteldiener in betreßten Hosen
    und weißem Hemd mit schwarzer Fliege sie mir aus der Hand riß.
    Der Nachtportier war ein eierköpfiger Mann, der sich weder für mich noch für irgend etwas auf der Welt interessierte. Er trug die kümmerlichen Reste eines weißen Leinenanzugs, gähnte, als er mir
    den Federhalter reichte, und blickte dann in die Ferne, als ob er sich
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    gerade seiner Kindheit erinnerte.
    Der Hausdiener und ich fuhren mit einem asthmatischen Fahr‐
    stuhl in den zweiten Stock und wanderten dann einige Meilen weit
    um zahlreiche Ecken. Während wir wanderten, wurde es heißer und
    heißer. Der Hausdiener schloß eine Tür zu einem Raum im Kinder‐
    format auf, dessen einziges Fenster zum Luftschacht führte. Die Lüf‐
    tungsöffnung der Klimaanlage oben in der Ecke hatte die Größe
    eines Damentaschentuchs. Das bißchen Gummiband, das daran
    baumelte, flatterte schwächlich, nur um zu zeigen, daß sich überhaupt etwas bewegte.
    Der Hausdiener war hochgewachsen und dünn und gelb und
    nicht gerade jung und kalt wie eine Scheibe Hähnchen in Aspik. Er
    transportierte seinen Kaugummi innen durch sein Gesicht, stellte meinen

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