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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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mit einem alten verrosteten Waschkessel, daran grenzt ein großer Holzschuppen mit Schiebetür, die an Rollen
    hängt. Dieser Schuppen war mal als Garage gebaut worden, diente
    dann aber zum Lagern von Holz und war deshalb außerhalb der
    Holzfällersaison verschlossen. Holz ist eine der wenigen Sachen, die
    hier oben gestohlen werden. Aber die Leute, die es von einem Stapel
    im Freien stehlen, würden kein Schloß aufbrechen, um an das Holz
    zu kommen. Ich vermute, Sie wissen schon, was ich in diesem Holz‐
    schuppen entdeckt habe.«
    »Wollten Sie nicht runter nach San Bernardino fahren?«
    »Hab mir’s anders überlegt. Es schien mir nicht richtig, Bill in ei‐
    nem Auto mit dem Leichnam seiner Frau runterfahren zu lassen, sie
    auf dem Rücksitz. So hab ich die Tote mit der Ambulanz von Doc runtergeschickt, und Andy hat Bill runtergefahren. Ich hab mir
    überlegt, daß ich mich noch ein bißchen umsehen müßte, bevor ich
    die Sachen dem Sheriff und dem Coroner vorlege.«
    »Muriels Wagen stand also im Holzschuppen?«
    »Jawohl. Und zwei unverschlossene Koffer waren im Wagen. Mit
    Kleidern vollgepackt und in großer Hast vollgepackt, denke ich.
    Frauenkleider. Entscheidend dabei ist, mein Sohn: kein Fremder
    hätte den Platz gekannt.«
    Ich pflichtete ihm bei. Er steckte seine Hand in die schräg‐
    geschnittene Seitentasche seiner Lederjoppe und zog ein kleines
    Päckchen aus Seidenpapier heraus. Er öffnete es auf seiner Handflä‐
    che und streckte mir die flache Hand entgegen. »Schauen Sie sich das an!«
    Ich trat zu ihm und schaute mir’s an. Auf dem Seidenpapier lag ein dünnes Goldkettchen mit einem winzigen Verschluß, der nur
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    eine Spur größer als ein einzelnes Kettenglied war. Das Goldkettchen war durchgeknipst, der Verschluß war ganz. Auf dem Kett‐
    chen und an dem Seidenpapier waren noch Spuren von weißem
    Pulver zu erkennen.
    »Wo, glauben Sie, hab ich das da gefunden?« fragte Patton.
    Ich nahm das Kettchen in die Hand und versuchte die beiden
    durchgetrennten Enden zusammenzusetzen. Sie paßten nicht zu‐
    sammen. Ich überging das stillschweigend und feuchtete einen Fin‐
    ger an, tippte damit an das Pulver und kostete es.
    »In einer Dose oder einer Tüte mit Einmachzucker«, sagte ich.
    »Das Kettchen ist eine Fußkette. Manche Frauen nehmen sie nie‐
    mals ab, wie Eheringe. Derjenige, der dies hier abgenommen hat, besaß keinen Schlüssel.«
    »Und was schließen Sie daraus?«
    »Nicht viel«, sagte ich. »Es ergibt absolut keinen Sinn, daß Bill es
    ihr vom Fuß abgerissen hat, während er ihr das grüne Halsband am
    Hals ließ. Und es gibt auch keinen Sinn, daß Muriel selbst das Kett‐
    chen abgerissen hat – mal angenommen, sie hätte den Schlüssel ver‐
    loren – und es dann versteckte. Eine genügend gründliche Durchsu‐
    chung, die es an den Tag gebracht hätte, wäre sowieso nicht vorge‐
    nommen worden, bevor man nicht zuerst ihre Leiche gefunden hät‐
    te. Wenn Bill es aufgemacht haben sollte, hätte er’s in den See geworfen. Wenn Muriel es jedoch behalten und doch vor Bill verstek‐
    ken wollte, dann war das Versteck ganz sinnvoll ausgesucht.«
    Patton sah mich verwirrt an: »Warum das?«
    »Weil’s ein typisch weibliches Versteck ist. Einmachzucker ver‐
    wendet man nur in der Küche. Ein Mann würde da nie suchen.
    Ganz schön schlau, daß Sie’s gefunden haben, Sheriff.«
    Er grinste ein wenig einfältig. »Ach was! Ich hab versehentlich die
    Büchse umgestoßen und Zucker dabei verschüttet«, sagte er. »Wenn
    mir das nicht passiert wäre, hätte ich’s nie gefunden.« Er faltete das
    Papier wieder zusammen und ließ es zurück in seine Tasche gleiten.
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    Er stand auf, es hatte etwas Abschließendes.
    »Bleiben Sie hier oben oder fahren Sie zurück in die Stadt, Mr.
    Marlowe?«
    »Zurück in die Stadt. Es sei denn, Sie brauchen mich fürs Verhör,
    wie ich vermute.«
    »Das hängt natürlich vom Coroner ab. Wenn Sie so freundlich wä‐
    ren, das Fenster wieder zu schließen, das Sie eingedrückt haben, könnte ich das Licht ausmachen und abschließen.«
    Ich tat, was er mir gesagt hatte, und er machte seine Taschenlampe
    an und löschte das Licht. Wir gingen hinaus, und er prüfte die Tür,
    um sicher zu sein, daß er auch richtig abgeschlossen habe. Er schloß
    vorsichtig den Holzladen und stand dann da, während er über den
    mondbeglänzten See blickte.
    »Ich glaube nicht, daß Bill sie töten wollte«, sagte er traurig. »Er kann ein

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