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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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noch nicht
    zu sehen. Sie war eine schlanke Frau von unbestimmbarem Alter, mit wirren braunen Haaren, einem grellrot verschmierten Mund, zu
    viel Rouge auf den Wangen und zu viel Schatten unter den Augen.
    Sie trug ein blaues Kleid aus Tweed, das wie die Faust aufs Auge zu
    dem roten Hut paßte, der sich die größte Mühe gab, um nicht seit‐
    lich von ihrem Kopf abzurutschen.
    Sie sah mich, blieb nicht etwa stehen und veränderte auch ihren Gesichtsausdruck nicht im geringsten. Sie kam langsam weiter ins Zimmer herein und hielt ihre rechte Hand abgespreizt.
    An der linken Hand trug sie den braunen Handschuh, den ich zu‐
    erst am Geländer gesehen hatte. Der gleiche Handschuh an der rech‐
    ten Hand umschloß einen kleinen Revolver.
    Sie blieb stehen, beugte sich zurück. Ein kurzer qualvoller Laut kam aus ihrem Mund. Dann kicherte sie. Es war ein schrilles, nervö‐
    ses Kichern. Sie richtete den Revolver auf mich und kam langsam näher.
    Ich blickte unverwandt und ohne zu schreien auf den Revolver.
    Die Frau kam näher. Als sie nahe genug war, um vertraulich mit
    mir reden zu können, richtete sie den Revolver auf meinem Magen
    und sagte: in »Ich bin nur wegen der Miete da. Es scheint, die Woh‐
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    nung ist gut in Schuß. Nichts ist kaputt. Er war eigentlich immer ein
    guter ordentlicher Mieter. Ich möchte nur nicht, daß er mit der Mie‐
    te zu weit in Rückstand gerät.«
    Jemand mit einer unnatürlich traurigen Stimme sagte höflich:
    »Wie weit ist er denn im Rückstand?«
    »Drei Monate«, sagte sie. »Zweihundertvierzig Dollar. Achtzig
    Dollar ist ein sehr bescheidener Preis für ein Haus, das so gut einge‐
    richtet ist. Ich hatte früher schon einige Schwierigkeiten mit dem Kassieren, aber eigentlich ist alles immer gutgegangen. Für heute morgen hatte er mir einen Scheck versprochen. Am Telefon. Das
    heißt, daß er mir ihn heute morgen geben wollte.«
    »Am Telefon«, sagte ich. »Heute morgen.«
    Ich bewegte mich ein wenig nach vorne, so unmerklich es nur
    ging. Ich wollte nahe genug rankommen, um mit einem gezielten
    Hieb den Revolver zur Seite schlagen und dann schnell zu ihr sprin‐
    gen zu können, bevor sie den Revolver wieder auf mich richten konnte.
    Ich hatte mit diesem Trick noch nie allzu großen Erfolg, aber leider
    kam ich nicht darum herum, ihn von Zeit zu Zeit wieder probieren
    zu müssen. Jetzt, so sah es aus, war also wieder ein Versuch fällig.
    Ich schaffte ungefähr sechs Zoll, bei weitem nicht genug für den ersten Schlag. Ich sagte: »Sie sind die Hausbesitzerin?« Ich schaute nicht direkt zum Revolver. Ich hatte eine schwache, sehr schwache Hoffnung, daß sie sich der Richtung der Revolvermündung nicht
    bewußt war.
    »Aber natürlich. Ich bin Mrs. Fallbrook. Wer sollte ich denn Ihrer
    Meinung nach sonst sein?«
    »Ich hab mir schon gedacht, daß Sie die Hausbesitzerin sind«, sag‐
    te ich. »Weil Sie von der Miete gesprochen haben und so. Aber ich
    wußte nicht, wie Sie heißen.« Weitere acht Zoll. Hübsche saubere Arbeit. Ein Jammer, wenn sie umsonst wäre.
    »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
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    »Ich komme wegen der Ratenzahlung für den Wagen«, sagte ich.
    »Die Tür war eine klitzekleine Spur von ’ner Idee offen, und so bin
    ich sozusagen hereingeschlüpft. Ich weiß eigentlich selbst nicht, warum.«
    Ich setzte das Gesicht eines Mannes von einem Kreditinstitut auf,
    der wegen der fälligen Ratenzahlung für das Auto kommt. Etwas
    hart, aber jederzeit bereit, ein sonniges Lächeln aufzustecken.
    »Heißt das, daß Mr. Lavery mit seinen Raten fürs Auto auch im Rückstand ist?« fragte sie und sah besorgt drein.
    »Ein wenig. Wirklich nicht viel«, sagte ich besänftigend.
    Ich hatte den richtigen Ausgangspunkt erreicht. Von hier aus
    mußte die Reichweite stimmen, von hier aus müßte ich den nötigen
    Schwung haben. Alles, was jetzt vonnöten war, war ein sauberer harter Schlag gegen die Innenseite des Revolvers, um ihn nach au‐
    ßen zu schleudern. Ich begann mein linkes Bein vom Teppich zu heben.
    »Ach, wissen Sie«, sagte sie, »mit diesem Revolver ist mir was Komisches passiert. Ich hab ihn auf der Treppe gefunden. Häßliche
    Dinger, die Ölflecken machen, nicht wahr? Und der Läufer auf der
    Treppe ist ein sehr schöner grauer Chemille. Ziemlich teuer.«
    Und sie reichte mir den Revolver.
    Ich streckte meine Hand nach dem Revolver aus, sie war hart wie
    eine Eierschale, fast spröde. Ich nahm den Revolver. Sie blickte

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