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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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zu und sagte,
    während er sich zu mir herunterbeugte: »Sagen Sie das noch mal!«
    Ich sagte es noch mal.
    Er schlug mir mit der offenen Hand quer übers Gesicht. Er schlug
    mir den Kopf zur Seite. Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde und anschwoll.
    »Sagen Sie das noch mal!« sagte er sanft.
    Ich sagte es noch mal. Er wischte mir wieder seine Hand übers Ge‐
    sicht und schlug meinen Kopf erneut zur Seite.
    »Sagen Sie das noch mal.«
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    »Nein. Aller guten Dinge sind drei. Und Sie könnten da‐
    nebenhaun.« Ich nahm eine Hand hoch und rieb meine Backe.
    Er stand weiter vorgebeugt da, die Lippen von den Zähnen gezo‐
    gen, und seine sehr blauen Augen hatten einen grausamen tieri‐
    schen Ausdruck.
    »Jedesmal, wenn Sie einem Polizisten so kommen«, sagte er, »wis‐
    sen Sie jetzt, was passiert. Also probieren Sie’s ruhig noch mal. Aber
    das nächste Mal werd ich nicht bloß mit der flachen Hand zuschla‐
    gen.«
    Ich biß mir auf die Lippen und rieb meine Backe.
    »Stecken Sie ruhig weiter Ihre Nase in unsre Angelegenheiten.
    Aber wundern Sie sich nicht, wenn Sie danach irgendwo auf dem Müll liegen und die Katzen um Sie herumstreichen.«
    Ich sagte nichts. Er ging weg von mir, setzte sich wieder hin und
    atmete schwer. Ich hörte auf, mein Gesicht zu reiben, streckte meine
    Hand aus und bewegte langsam meine Finger, um sie zu entkramp‐
    fen.
    »Ich werd’s mir merken«, sagte ich, »in jeder Hinsicht merken.«

    Am frühen Abend war ich wieder in Hollywood und in meinem
    Büro. Das Gebäude war bereits leer, die Korridore ruhig. Die Türen
    waren geöffnet, drinnen waren die Putzfrauen mit ihren Staubsau-gern, Besen und Tüchern bei der Arbeit.
    Ich schloß meine Bürotür auf, hob einen Briefumschlag vom Bo‐
    den, der hinter dem Briefschlitz lag, und warf ihn auf meinen Schreibtisch, ohne ihn mir näher anzuschauen. Ich schob das Fenster
    hoch, lehnte mich hinaus, sah auf die ersten Neonlichter und spürte,
    wie die warme Luft nach Essen roch, die ein Ventilator aus einem benachbarten Restaurant hochschleuderte.
    Ich zog Jackett und Krawatte aus, setzte mich an den Tisch, zog meine Büroflasche aus ihrer Schublade und genehmigte mir einen
    Schluck. Mir ging’s danach keineswegs besser. Ich nahm einen zwei‐
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    ten Schluck, das Ergebnis war das gleiche.
    Inzwischen hatte Webber sicher schon mit Kingsley gesprochen.
    Und wahrscheinlich wurde schon nach seiner Frau gefahndet, wenn
    nicht jetzt, dann sehr bald. Für die Polizei mußte das eine glatte und
    klare Sache sein. Eine üble Geschichte zwischen zwei ziemlich üblen
    Leuten mit zu viel Liebe, zu viel Alkohol, zu viel Intimität, die in wildem Haß, in mörderischen Entschlüssen und im Tod endet.
    Mir schien das alles ein wenig zu einfach.
    Ich griff nach dem Briefumschlag und öffnete ihn. Er war unfran‐
    kiert. Ich las: »Mr. Marlowe, Florence Almores Eltern heißen Mr.
    und Mrs. Eustace Grayson und wohnen Rosemore Arms, 640 South
    Oxford Avenue. Ich habe das durch die in der Anzeige angegebene
    Telefonnummer herausgefunden. Ihre Adrienne Fromsett.«
    Eine elegante Handschrift, die zu der eleganten Hand paßte, die das geschrieben hatte. Ich schob’s zur Seite und nahm einen weiteren Schluck. Ich fühlte mich etwas ruhiger. Ich stieß die Sachen auf
    dem Schreibtisch herum. Meine Hände waren schwer, heiß, unbe‐
    holfen. Ich strich mit einem Finger über die Tischplatte und sah auf
    die Spur, die er durch den Staub zog. Ich sah auf den Staub an mei‐
    nem Finger und wischte ihn ab. Ich sah auf meine Uhr. Ich sah auf
    die Wand. Ich sah auf nichts.
    Ich stellte die Schnapsflasche weg und ging hinüber zum Wasch‐
    becken, um das Glas auszuspülen. Danach wusch ich mir die Hän‐
    de, steckte mein Gesicht ins kalte Wasser und sah es mir an. Es sah nicht mehr gerötet, aber leicht geschwollen aus. Nicht sehr, aber genug, um mich wieder auf Touren zu bringen. Ich kämmte mich und
    entdeckte dabei ein paar graue Haare. Es wurden immer mehr. Und
    das Gesicht darunter sah krank aus. Es gefiel mir ganz und gar nicht.
    Ich ging zurück zu meinem Schreibtisch und las Miss Fromsetts
    Nachricht noch einmal. Ich strich das Papier auf der Glasplatte glatt,
    schnupperte daran, strich es noch glatter, faltete es und steckte es in die Jackentasche.
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    Ich saß bewegungslos da und hörte zu, wie der Abend vor dem
    geöffneten Fenster ruhig wurde. Und zusammen mit dem Abend
    wurde auch ich ganz langsam ruhig.

    Rosemore Arms war ein

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