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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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düsterer Haufen von dunkelroten Ziegelge-bäuden, die um einen Riesenvorhof herumstanden. Man betrat eine
    plüschige Halle, die aus Stille, Topfpflanzen, einem gelangweilten Kanarienvogel in einem Käfig, der groß wie eine Hundehütte war, einem Geruch nach alten staubigen Teppichen und dem üppigen
    Duft von längst verwelkten Gardenien bestand.
    Die Graysons wohnten auf der Vorderseite des fünften Stocks im
    Nordflügel. Sie saßen in einem Zimmer beisammen, das um rund
    zwanzig Jahre hinter der Zeit zurückgeblieben war. Es hatte schwe‐
    re Möbel mit zu viel Plüsch und Türknöpfe aus Messing, die an Eier
    erinnerten, einen riesigen Wandspiegel in einem vergoldeten Rah‐
    men, einen Marmortisch am Fenster und dunkelrote Plüschvorhän‐
    ge. Es roch nach Tabakrauch, außerdem wußte mir der Geruch zu berichten, daß es Lammkoteletts und Brokkoli zum Abendessen
    gegeben hatte.
    Mrs. Grayson war eine plumpe Frau, die einst große babyblaue Au‐
    gen gehabt haben mochte. Jetzt waren sie trüb geworden, von Brillen
    verborgen und ein wenig vorstehend. Sie hatte dünnes weißes Haar.
    Sie saß da und stopfte Socken, sie hatte ihre angeschwollenen Knö‐
    chel übereinander gekreuzt, so daß ihre Füße knapp den Boden erreichten; in ihrem Schoß hielt sie einen großen geflochtenen Nähkorb.
    Grayson war ein langer, gekrümmter Mann mit einem gelben Ge‐
    sicht, hohen Schultern, borstigen Augenbrauen und so gut wie kei‐
    nem Kinn. Die obere Gesichtshälfte wirkte amtlich, die untere verabschiedete sich nur noch. Er trug eine Zweistärkenbrille und hatte
    sich gerade grämlich durch die Abendzeitung gefressen. Ich hatte ihn im Branchenverzeichnis nachgeschlagen. Er war ein staatlich
    beglaubigter Buchprüfer, und so sah auch jeder Zoll von ihm aus. Er
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    hatte sogar Tinte an den Fingern, vier Bleistifte steckten in der Brusttasche seiner offenen Weste.
    Er las meine Visitenkarte jetzt zum siebten Mal, äußerst sorgfältig,
    sah mich von oben bis unten an und sagte langsam:
    »Und weswegen wollen Sie uns sprechen, Mr. Marlowe?«
    »Ich beschäftige mich mit einem Mann namens Lavery. Er lebt ge‐
    nau gegenüber von Dr. Almore. Ihre Tochter war die Frau von Dr.
    Almore. Und Lavery ist der Mann, der Ihre Tochter gefunden hat.
    Damals, in der Nacht, als sie – starb.«
    Die beiden horchten auf wie Wachhunde, als ich wie beiläufig vor
    dem letzten Wort eine Pause machte. Grayson sah seine Frau an, und sie schüttelte den Kopf.
    »Darüber möchten wir nicht gern sprechen«, sagte Grayson
    schnell. »Es ist immer noch viel zu schmerzlich für uns.«
    Ich schwieg einen Augenblick und sah gemeinsam mit ihnen be‐
    trübt drein. Dann sagte ich: »Das verstehe ich nur zu gut. Ich will Sie auch nicht dazu überreden. Sie könnten mir aber helfen, den Mann
    zu sprechen, den Sie engagiert hatten, um die Sache aufzuklären.«
    Wieder sahen sie sich an. Diesmal schüttelte Mrs. Grayson ihren Kopf nicht.
    Grayson fragte: »Warum?«
    »Es ist vielleicht besser, wenn ich Ihnen ganz kurz meine Ge‐
    schichte erzähle.«
    Ich erzählte ihnen, wofür ich engagiert worden war, ohne Kingsleys Namen zu erwähnen. Ich erzählte ihnen von dem gestrigen
    Zwischenfall mit Degarmo vor Almores Haus. Wieder horchten sie
    mit der Aufmerksamkeit von Wachhunden auf.
    Grayson sagte scharf: »Soll ich das so verstehen, daß Sie Dr. Almo‐
    re unbekannt waren, daß Sie ihn in keiner Weise belästigt haben und daß er trotzdem einen Polizeibeamten herbeigerufen hat, weil Sie vor seinem Haus waren?«
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    Ich sagte: »So ist es. Allerdings stand ich mindestens eine Stunde
    vor seinem Haus. Genauer gesagt, mein Wagen stand so lange da.«
    »Das ist schon sehr seltsam«, sagte Grayson.
    »Ich würde sagen, daß er ein sehr nervöser Mensch ist«, sagte ich.
    »Und Degarmo hat mich gefragt, ob mich ihre Sippschaft – gemeint
    war die Ihrer Tochter – geschickt hätte. Das sieht doch ganz so aus,
    als ob er sich bedroht fühlt. Oder sehen Sie das anders?«
    »Wodurch bedroht?« Er sah mich nicht an, während er das sagte.
    Er zündete sich gemächlich seine Pfeife an, drückte den Tabak mit dem Ende eines großen metallenen Stifts fest und zündete sie
    nochmals an.
    Ich zuckte ohne zu antworten die Schulter. Er sah mich rasch an und sah dann weg. Mrs. Grayson sah nicht zu mir, aber ihre Nasenflügel bebten.
    »Wie konnte er wissen, wer Sie sind?« fragte Grayson un‐
    vermittelt.
    »Hat sich wahrscheinlich meine Autonummer notiert,

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