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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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haben was in der Hand«,
    sagte sie. »Das kenne ich. Mein Gott, wie ich das kenne. Sie haben was in der Hand. George Talley hatte auch was in der Hand. Damals.«
    »Er kann’s wieder haben«, sagte ich. »Wenn er’s geschickt anfaßt.«
    »Wenn’s darauf ankommt«, sagte sie, »können Sie ihn gleich strei‐
    chen.«
    Ich lehnte gegen den Türrahmen und strich statt dessen mein
    Kinn. Irgend jemand hatte hinten auf der Straße eine Stablaterne angemacht. Ich wußte nicht, warum. Das Licht erlosch wieder. Es schien in der Nähe meines Wagens zu sein.
    Der bleiche Schimmer des Gesichts auf der Couch bewegte sich
    und verschwand. An seiner Stelle waren jetzt Haare. Die Frau hatte
    ihr Gesicht zur Wand gedreht.
    »Ich bin müde«, sagte sie. Ihre Stimme klang jetzt verschwommen,
    während sie gegen die Wand sprach. »Ich bin verdammt müde. Ge‐
    ben Sie’s auf, Mister. Seien Sie nett und verschwinden Sie.«
    »Wie war’s mit ’m bißchen Kleingeld?«
    »Spüren Sie den Zigarettenrauch?«
    Ich schnupperte. Ich spürte keinen Zigarettenrauch. Ich sagte:
    »Nein.«
    »Sie waren hier. Zwei volle Stunden waren sie hier. Gott, wie ich
    das alles satt habe. Verschwinden Sie!«
    »Hören Sie, Mrs. Talley…«
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    Sie drehte sich auf der Couch um, und der Schimmer ihres Ge‐
    sichts war wieder zu sehen. Beinahe, aber nur beinahe hätte ich ihre
    Augen sehen können.
    »Hören Sie lieber selbst«, sagte sie. »Ich kenne Sie nicht. Und ich will Sie auch gar nicht kennenlernen. Ich habe Ihnen nichts zu er-zählen. Und ich würde Ihnen auch nichts erzählen, wenn’s was gä‐
    be. Ich lebe hier, wenn Sie das leben nennen wollen. Jedenfalls kommt es dem Leben, wie ich’s kriegen kann, noch am nächsten. Ich
    möchte in Frieden gelassen werden und meine Ruhe haben. Und
    jetzt verschwinden Sie und lassen Sie mich in Ruhe!«
    »Lassen Sie mich ins Haus rein«, sagte ich. »Wir können dann in Ruhe darüber sprechen. Ich glaube, ich kann Sie davon überzeugen…«
    Sie drehte sich plötzlich wieder auf der Couch herum, man hörte
    Füße den Boden berühren. Ihre Stimme klang gepreßt vor Wut.
    »Wenn Sie nicht sofort verschwinden«, sagte sie, »fang ich an zu schreien, so laut ich kann. Und zwar gleich jetzt. Gleich.«
    »Okay!« sagte ich schnell. »Ich stecke meine Karte in die Tür. Da‐
    mit Sie meinen Namen nicht vergessen. Falls Sie Ihre Meinung ändern.«
    Ich nahm eine Karte heraus und klemmte sie in den Türspalt.
    »Und nun gute Nacht, Mrs. Talley.«
    Keine Antwort. Ihre Augen blickten mich quer durch das Zimmer
    an und schimmerten schwach in der Dunkelheit. Ich ging von der Veranda hinunter und den schmalen Weg zur Straße hinauf. Gegenüber lief leise der Motor des Wagens mit den brennenden Park‐
    lichtern. Leise laufende Motoren gibt es in vielen tausend Autos an
    vielen tausend Straßen, überall.
    Ich stieg in meinen Chrysler und startete.

    Westmore ist eine in Nord‐Süd‐Richtung verlaufende Straße auf der
    falschen Seite der Stadt. Ich fuhr nach Norden. An der nächsten Ek‐
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    ke holperte ich über Schienen einer stillgelegten Straßenbahn und kam in einen Block, der aus lauter Müllhalden bestand. Hinter
    Holzzäunen sah man die verformten Kadaver alter Autos, die gro-teske Silhouetten bildeten; es sah aus wie ein modernes Schlachtfeld.
    Berge verrosteter Teile wirkten im Mondlicht plump; es waren haus‐
    hohe Berge, zwischen denen es Gänge gab.
    Scheinwerfer leuchteten in meinem Rückspiegel auf und wurden
    größer. Ich gab Gas, holte die Schlüssel aus der Tasche und schloß das Handschuhfach auf. Ich nahm meine 38er heraus und legte sie dicht bei meinem Bein auf den Nebensitz.
    Hinter den Müllabladeplätzen war eine Ziegelei. Aus dem hohen
    Schornstein des Brennofens stieg kein Rauch, er ragte hoch über ein
    ödes und leeres Gebiet. Man sah Haufen von dunklen Ziegeln, ein langes Holzgebäude mit einer Aufschrift, Leere, keine Bewegung,
    kein Licht.
    Der Wagen hinter mir holte auf. Das schwache Winseln einer nur
    leicht bedienten Sirene brummte durch die Nacht. Der Ton strich über die Ränder eines verkommenen Golfplatzes im Osten und über
    die Ziegelei im Westen. Ich fuhr noch ein wenig schneller, aber es war sinnlos. Der Wagen hinter mir kam schnell näher, und plötzlich
    leuchtete immenses rotes Scheinwerferlicht über die Straße.
    Der Wagen kam auf gleiche Höhe mit meinem und fing an, mich
    zu schneiden. Ich warf den Chrysler herum und machte eine milli‐
    meterscharfe

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