Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
Vom Netzwerk:
Schuß war, nahm ich an, daß es sich um einen alten Kunden handelte.
    Ich setzte mich auf die untere Pritsche. Sie hatten mich zwar nach
    einem Revolver abgetastet, aber meine Taschen nicht gefilzt. Ich nahm mir eine Zigarette und rieb die heiße Schwellung in meiner Kniekehle. Der Schmerz hatte sich über das ganze Bein bis in den Fuß hinunter ausgebreitet. Der Whisky, den ich vorne über meine Jacke gespuckt hatte, roch abgestanden. Ich hielt den Stoff hoch und
    blies Rauch hindurch. Der Rauch stieg zu dem flachen Rechteck aus
    beleuchtetem Glas in der Decke auf. Das Gefängnis wirkte sehr still.
    Eine Frau veranstaltete irgendwo sehr weit weg in einem anderen Teil des Gefängnisses ein schrilles Getöse. Mein Teil war still wie 177
    eine Kirche.
    Die Frau schrie, wo sie auch sein mochte. Das Schreien klang
    dünn, scharf und unwirklich und erinnerte an das Heulen der Coyo‐
    ten bei Mondlicht, obwohl ihm die anschwellende Schärfe der Coyo‐
    ten fehlte. Nach einer Weile wurde es wieder still.
    Ich rauchte zwei volle Zigarettenlängen und warf die Kippen in die kleine Toilette in der Ecke. Der Mann in der oberen Koje schnarchte noch immer. Von ihm waren nur feuchte, fettige Haare zu sehen, die aus der Decke hervorsahen. Er lag auf dem Bauch und
    schlief. Er schlief gut. Er war einer der besten.
    Ich setzte mich wieder auf meine Pritsche. Sie bestand aus flachen
    Stahlstreifen, darauf eine dünne harte Matratze. Zwei dunkelgraue Wolldecken lagen ordentlich zusammengefaltet darauf. Es war ein
    sehr hübsches Gefängnis. Es lag im zwölften Stockwerk des neuen Gemeindehauses. Es war ein sehr hübsches Gemeindehaus. Bay City
    war ein sehr hübscher Ort. Leute lebten hier und dachten das. Wür‐
    de ich hier leben, würde ich es zweifellos auch denken. Ich würde die hübsche blaue Bucht sehen und die Klippen und den Yachthafen
    und die ruhigen Straßen und ihre Häuser, die alten Häuser, die un‐
    ter alten Bäumen dahindämmerten, und die neuen Häuser mit ihren
    exakt umrandeten grünen Rasenflächen und ihren Drahtzäunen und
    ihren an Pfähle gebundenen Baumsprößlingen, die in die Parkwege
    davor gepflanzt waren. Ich kannte ein Mädchen, das in der Twenty‐
    fifth Street lebte. Es war eine hübsche Straße. Sie war ein hübsches Mädchen. Sie mochte Bay City gern.
    Sie dachte dabei bestimmt nicht an die Slums der Mexikaner und
    der Neger, deren trostlose Mietskasernen sich südlich der alten Straßenbahnschienen endlos ausbreiteten. Und sie dachte auch nicht
    an das Ufer, das sich südlich von den Klippen an der flachen Küste
    entlangzog, mit seinen verschwitzten kleinen Tanzlokalen an der
    Durchgangsstraße, den Marihuana‐Kneipen, oder an die verkniffe‐
    nen Fuchsgesichter, die über die Ränder ihrer Zeitungen linsten und
    178
    in viel zu ruhigen Hotelhallen saßen, noch an die Taschendiebe und
    Zuhälter und die Schläger und Rausschmeißer und die Strichjungen
    und Transvestiten im Hafenviertel.
    Ich ging durch die Zelle und blieb bei der Tür stehen. Auf dem Gang rührte sich nichts. Die Lichter im Zellenblock waren abgedun-kelt und ruhig. Es herrschte kein großer Betrieb im Gefängnis.
    Ich sah auf meine Uhr. Neun Uhr fünfundvierzig. Zeit zum Nach‐
    hausegehen, um die Hausschuhe anzuziehen und eine Partie Schach
    zu spielen. Zeit für einen großen kühlen Drink und eine ruhige lange
    Pfeife. Zeit, um die Füße hochzulegen und an nichts zu denken. Zeit,
    um hinter seinem Magazin zu gähnen. Zeit, um Mensch zu sein, ein
    Privatmann, ein Mann, der nichts zu tun braucht, außer sich ausruhen und die Nachtluft einatmen und seinen Kopf für morgen erholen.
    Ein Mann in der blaugrauen Gefängnisuniform kam den Zellen‐
    gang entlang und las die Nummern der Zellen. Vor meiner blieb er
    stehen, schloß die Tür auf und gab mir einen jener harten Blicke, von dem sie glauben, daß sie ihn immer und immer und immer in
    der Visage tragen müssen. Ich bin ein Bulle, Bruder, ich bin zäh, also
    sei vorsichtig, Bruder, oder wir machen dich so fertig, daß du auf allen vieren kriechst, Bruder, spuck’s aus, Bruder, rück mit der Wahrheit raus, Bruder, komm schon und merk dir, daß wir zähe
    Burschen sind, wir Bullen, und daß wir mit euch Flaschen machen,
    was wir wollen.
    »Raus«, sagte er.
    Ich trat aus der Zelle, und er verschloß die Tür und winkte mit seinem Daumen, und wir marschierten zu einer weißen Stahltür, die
    er aufschloß, und wir gingen durch die Tür, die er abschloß, und

Weitere Kostenlose Bücher