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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Ihnen jetzt das Geld geben.«
    Ich nahm den Briefumschlag heraus und stand auf, um ihn ihr auf
    die Knie fallen zu lassen. Sie ließ ihn dort liegen. Ich setzte mich wieder.
    »Sie spielen diese Rolle schon sehr gut«, sagte ich. »Diese verwirr‐
    te Unschuld mit einem Unterton von Härte und Bitterkeit. Die Leute
    haben Sie ganz falsch eingeschätzt. Sie haben gedacht, daß Sie eine
    impulsive kleine Idiotin ohne Hirn und ohne Selbstbeherrschung
    seien. Das war ganz falsch.«
    Sie starrte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie sagte
    nichts. Dann hob ein kleines Lächeln ihre Mundwinkel. Sie nahm den Umschlag, schlug sich damit gegen die Knie und legte ihn auf
    den Tisch neben sich. Dabei sah sie mich unentwegt an.
    »Sie haben auch die Rolle der Fallbrook sehr gut gespielt«, sagte ich. »Wenn ich das so rückblickend betrachte, meine ich allerdings,
    daß Sie eine Spur zu dick aufgetragen haben. Aber zur richtigen Zeit
    hat es richtig auf mich gewirkt. Dieser purpurrote Hut, der bei blondem Haar in Ordnung gewesen wäre, sah auf dem wirren
    braunen Haar geradezu verboten aus, dieses verschmierte Make‐up,
    das wirkte, als hätte es jemand mit einem verstauchten Handgelenk
    im Dunkeln angepinselt, dieses überdrehte Benehmen einer Spinne‐
    rin. Das alles war schon sehr gut. Und als Sie mir dann den Revolver
    auf diese Art in die Hand gelegt haben – wirklich, ich kam mir vor
    wie der Weihnachtsmann.«
    Sie kicherte und steckte ihre Hände in die tiefen Taschen ihres Mantels. Ihre Absätze klopften auf den Boden.
    »Aber warum sind Sie überhaupt noch mal hingegangen?« fragte
    ich. »Wozu das Risiko am hellichten Tag, mitten am Vormittag?«
    »Sie glauben also, daß ich Chris Lavery erschossen habe?« sagte sie ruhig.
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    »Ich glaube es nicht. Ich weiß es.«
    »Warum ich noch mal hingegangen bin? Wollen Sie das wissen?«
    »Eigentlich ist es unwichtig«, sagte ich.
    Sie lachte. Ein scharfes, kaltes Lachen. »Er hatte mein ganzes Geld«, sagte sie. »Er hatte meine Taschen ausgeplündert. Er hatte alles genommen, sogar das Kleingeld. Deshalb bin ich zurückge-gangen. Und es war auch überhaupt kein Risiko dabei. Ich wußte doch, wie er lebte. Es war sogar sicherer, noch mal zurückzugehen.
    Um beispielsweise die Milch und die Zeitung hineinzunehmen.
    Normalerweise verlieren die Menschen in solchen Situationen den
    Kopf. Ich nicht. Ich wüßte auch nicht, warum. So ist doch alles viel
    sicherer.«
    »Jetzt verstehe ich«, sagte ich. »Und selbstverständlich haben Sie ihn schon am Abend zuvor erschossen. Ich hätte das in Erwägung ziehen müssen, auch wenn’s nicht mehr wichtig ist. Er war beim Rasieren. Aber Typen mit dunklem Bartwuchs und vielen Freundinnen rasieren sich vor dem Zubettgehen, hab ich recht?«
    »Davon habe ich auch schon läuten hören«, sagte sie fast übermü‐
    tig. »Und was wollen Sie mit all dem anfangen?«
    »Sie sind das kaltblütigste Herzchen, das ich je getroffen habe«, sagte ich. »Was ich damit anfange? Natürlich Sie der Polizei übergeben. Es wird mir ein Vergnügen sein.«
    »Das glaube ich nicht.« Sie stieß die Worte fast trällernd aus‐ »Sie
    haben nicht kapiert, warum ich Ihnen den leeren Revolver gegeben
    habe. Warum nicht? Ich hatte noch einen zweiten in der Tasche. Bei‐
    spielsweise diesen hier.«
    Ihre rechte Hand kam aus der Manteltasche und richtete den Re‐
    volver auf mich.
    Ich grinste. Wahrscheinlich nicht das herzlichste Grinsen der Welt,
    aber ein Grinsen immerhin.
    »Ich habe diese Szene noch nie gemocht«, sagte ich. »Detektiv
    stellt Mörder. Mörder zaubert einen Revolver hervor und richtet 210
    denselben auf Detektiv. Mörder erzählt Detektiv die ganze traurige
    Geschichte, weil er glaubt, ihn am Ende erschießen zu können. Auf
    diese Weise wird ein Haufen kostbarer Zeit vertan, sogar dann, wenn am Ende der Mörder den Detektiv erschießt. Nur gelingt das
    dem Mörder nie. Irgendwas passiert immer, um das zu verhindern.
    Auch die Götter lieben solche Szenen nicht. Sie richten’s immer so ein, daß sie schief gehn.«
    »Angenommen«, sagte sie sanft, während sie aufstand und sanft
    auf dem Teppich auf mich zukam, »wir machen’s aber diesmal ein
    wenig anders. Mal angenommen, ich erzähle Ihnen gar nichts. Und
    es passiert auch nichts. Und ich erschieße Sie.«
    »Die Szene würde mir immer noch nicht gefallen«, sagte ich.
    »Sie scheinen keine Angst zu haben«, sagte sie und fuhr sich lang‐
    sam mit der Zunge über die Lippen,

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