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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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weichem lak-kiertem Holz, und das Bild zeigte einen Teil eines ungeheuer großen
    blaßgelben Viadukts, über den eine schwarzglänzende Lokomotive
    einen preußischblauen Zug schleppte. Durch einen der hohen Bogen
    des Viadukts war ein breiter gelber Strand zu sehen, der mit sich räkelnden Badegästen und aufgespannten Sonnenschirmen ge-sprenkelt war. Drei Mädchen spazierten eng zusammen mit Papier
    schirmen über den Strand, eine in Kirschrot, eine in Blaßblau, eine in
    Grün. Hinter dem Strand war eine geschwungene Bucht, blauer, als
    es irgendeiner Bucht erlaubt ist. Die Bucht badete im Sonnenschein
    und war mit weißen, kühn gebogenen Segeln gefleckt. Hinter dem landeinwärts verlaufenden Bogen der Bucht erhoben sich drei Berg-213
    ketten in drei kontrastierenden Farben, in Gold und Terrakotta und
    Lavendel.
    Quer über die Stirnseite des Bildes war in großen Druck‐
    buchstaben zu lesen: LERNEN SIE DIE FRANZÖSISCHE RIVIERA MIT DEM
    BLUETRAIN KENNEN!
    Es war der rechte Spruch zur rechten Zeit.
    Ich richtete mich mühsam auf und betastete meinen Hinterkopf. Er
    fühlte sich wie Brei an. Von der Berührung durchzuckte mich der Schmerz bis in die Fußsohlen. Ich stöhnte und verwandelte das
    Stöhnen rasch in ein Grunzen – aus beruflichem Stolz und was da‐
    von noch übrig geblieben war. Ich wälzte mich langsam auf den Bauch und blickte auf das Fußende eines heruntergeklappten
    Wandbetts; eines von zweien, und das zweite war immer noch zur
    Wand hochgeklappt. Die Schnörkel des auf das Holz gemalten Mu‐
    sters kamen mir bekannt vor. Sie hatten über dem Sofa gehangen, ohne daß ich sie besonders beachtet hätte.
    Während ich mich auf den Bauch wälzte, rollte eine viereckige
    Ginflasche von meiner Brust und fiel auf den Boden. Sie war was-serklar und leer. Es schien unmöglich, daß so viel Gin in einer einzi‐
    gen Flasche gewesen sein sollte.
    Ich zog die Knie an, hielt mich eine Weile auf allen vieren und schnaufte wie ein Hund, der sein Futter nicht schafft und doch nicht
    davon loskommt. Ich bewegte meinen Kopf in den Schultern. Er
    schmerzte. Ich bewegte ihn stärker, und es schmerzte immer noch.
    Ich richtete mich mühsam auf und entdeckte, daß ich keine Schuhe
    anhatte.
    Die Schuhe lagen an der Wandleiste und sahen so unordentlich
    aus, wie ausgezogene Schuhe immer aussehen. Ich zog sie mühsam
    an. Ich war auf einmal ein alter Mann. Es ging bergab, ins letzte lan‐
    ge Tal hinunter. Trotzdem war mir noch ein letzter Zahn geblieben.
    Ich betastete ihn mit der Zunge. Er schien nicht nach Gin zu schmecken.
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    »Alles wird wieder wie früher sein«, sagte ich. »Eines Tages wird
    alles wieder wie früher sein. Und es wird dir nicht mehr gefallen.«
    Die Lampe stand auf dem Tisch neben dem offenen Fenster. Und
    das dicke grüne Sofa war da. Und die Türeinbuchtung mit dem
    grünen Vorhang darüber. Man soll niemals mit dem Rücken vor
    einem grünen Vorhang sitzen. Es endet immer böse. Irgendwas pas‐
    siert immer. Zu wem hatte ich das gesagt? Zu einem Mädchen mit
    einem Revolver. Zu einem Mädchen mit einem offenen, ausdrucks‐
    losen Gesicht und dunkelbraunem Haar, das früher blond gewesen
    war.
    Ich sah mich suchend nach ihr um. Sie war immer noch da. Sie lag
    auf dem runtergeklappten Wandbett.
    Sie hatte ein Paar braune Strümpfe an und sonst nichts. Ihr Haar war zerzaust. An ihrem Hals waren dunkle Würgemale. Ihr Mund
    war offen, und ihre geschwollene Zunge füllte ihn bis zum Über-quellen. Ihre Augen standen heraus, und ihr Weiß war nicht weiß.
    Quer über ihren nackten Körper schielten vier wütende karminro‐
    te Kratzer neidisch auf ihr weißes Fleisch. Tiefe, wütende Kratzer, eingekerbt von vier wütenden Fingernägeln.
    Auf dem Sofa lagen zusammengeknüllte Kleider, die meisten von
    ihr. Meine Jacke lag ebenfalls da. Ich strich sie glatt und zog sie an.
    Etwas raschelte in dem Kleidergewirr bei meiner Berührung. Ich zog
    einen länglichen Briefumschlag heraus. Das Geld war noch drinnen.
    Ich steckte ihn in meine Tasche. Marlowe, fünfhundert Dollar. Ich hoffte, daß es immer noch fünfhundert waren. Sonst schien es nicht
    viel zu hoffen zu geben.
    Ich trat vorsichtig mit einem Fußballen auf, als ob ich über dünnes
    Eis ginge. Ich beugte mich vor, um meine Kniekehle zu reiben, und
    versuchte herauszufinden, was mir mehr weh tat – mein Knie oder
    mein Kopf, als ich mich zum Knie hinunterbeugte.
    Schwere Schritte kamen den Korridor entlang, man hörte das

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