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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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machte im Schlafzim‐
    mer Licht und untersuchte die Schränke. Einer davon enthielt maß‐
    geschneiderte Anzüge in reicher Auswahl. Das Etikett auf der Innenseite der Jacke benannte den Besitzer als H. G. Talbot. Ich ging zum Wäscheschrank, kramte dort herum und fand ein hellblaues
    Hemd, daß mir für mich ein bißchen zu klein vorkam. Ich nahm es
    ins Badezimmer, zog mein Hemd aus und wusch mir Gesicht und
    Oberkörper und rieb meine Haare mit einem nassen Handtuch ab
    und zog das blaue Hemd an. Ich benutzte jede Menge von Mr. Tal‐
    bots ziemlich aufdringlichem Haarwasser für meinen Kopf und griff
    mir seinen Kamm und seine Bürste, um mich zu kämmen. Jetzt roch
    ich nur noch sehr schwach nach Gin, wenn überhaupt.
    Der Kragenknopf des Hemds ließ sich nicht zumachen, also kram‐
    te ich nochmals im Wäscheschrank herum und fand einen dunkel‐
    blauen Schlips aus Kreppseide, den ich mir um den Hals schlang.
    Ich zog meine Jacke wieder an und betrachtete mich im Spiegel. Ich
    sah fast ein bißchen zu ordentlich für diese Uhrzeit aus, sogar für einen so sorgfältigen Menschen, wie es Mr. Talbot nach seinen Kleidern zu schließen sein mußte. Zu ordentlich und zu nüchtern.
    Ich brachte meine Haare ein wenig in Unordnung, lockerte die
    Krawatte, ging zurück zur Whiskykaraffe und unternahm etwas
    gegen das Allzunüchternsein. Ich zündete mir eine von Mr. Talbots
    Zigaretten an und hoffte dabei aufrichtig, daß. Mr. und Mrs. Talbot
    dort, wo sie gerade waren, ihre Zeit angenehmer verbrachten als ich.
    Ich hoffte, daß ich noch lange genug am Leben bliebe, um wieder-zukommen und sie zu besuchen.
    Ich ging zur Wohnzimmertür, die zum Korridor führte, öffnete sie,
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    lehnte mich in die geöffnete Tür und rauchte. Ich glaubte nicht, daß
    es funktionieren würde. Aber ich glaubte, es würde noch weniger funktionieren, wenn ich einfach drinnen wartete, bis sie meine Spur
    durch die Fenster aufgenommen hätten.
    Etwas weiter unten im Korridor hustete ein Mann; ich streckte
    meinen Kopf ein Stückchen heraus, und er erblickte mich. Er kam rasch auf mich zu, ein kleiner scharfer Kerl in einer ordentlich gebü‐
    gelten Polizeiuniform. Er hatte rötliches Haar und rötlich‐gelbe Au‐
    gen.
    Ich gähnte und sagte träge: »Was geht hier vor, Herr Wachtmeister?«
    Er sah mich nachdenklich an: »Ein bißchen Ärger nebenan. Haben
    Sie was gehört?«
    »Mir war’s so, als ob ich vielleicht jemand klopfen gehört habe. Ich
    bin erst vor wenigen Augenblicken nach Hause gekommen.«
    »Ein wenig spät«, sagte er.
    »Das ist Ansichtssache«, sagte ich. »Ärger nebenan, hmh?«
    »Eine Dame«, sagte er. »Kennen Sie sie?«
    »Wahrscheinlich vom Sehen.«
    »Jawohl«, sagte er. »Sie sollten sie jetzt sehen – « Er legte sich seine Hände an den Hals, ließ die Augen herausquellen und röchelte
    grauenerregend. »Etwa so«, sagte er. »Sie haben nichts gehört,
    hmh?«
    »Nichts Besonderes, nur das Klopfen.«
    »Na gut. Wie ist Ihr Name?«
    »Talbot.«
    »Nur einen Augenblick, Mr. Talbot, bleiben Sie einen Augenblick
    hier.«
    Er ging den Korridor entlang und beugte sich in eine offene Tür, aus der Licht fiel. »Lieutenant«, sagte er, »der Mann von nebenan ist
    aufgekreuzt.«
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    Ein großer Mann kam aus der Tür und schaute durch den Korri‐
    dor genau zu mir. Ein großer Mann mit rostfarbenem Haar und
    sehr, sehr blauen Augen. Degarmo. Das hatte noch gefehlt.
    »Hier ist der Mensch von nebenan«, sagte der kleine ordentliche Polizist diensteifrig. »Er heißt Talbot.«
    Degarmo sah mich direkt an, aber nichts in seinen scharfen blauen
    Augen verriet, daß er mich je zuvor gesehen hatte. Er kam ruhig den
    Korridor entlang und stemmte seine Hand gegen meine Brust und
    stieß mich zurück ins Zimmer. Als er mich ein paar Schritte von der
    Tür weg hatte, sagte er über seine Schulter:
    »Komm rein, Shorty, und mach die Tür zu.«
    Der kleine Polizist kam herein und schloß die Tür.
    »Das ist ’n Witz«, sagte Degarmo träge. »Halt deinen Revolver auf
    ihn, Shorty.«
    Shorty öffnete seine schwarze Revolvertasche an seinem Gürtel
    und hatte blitzschnell seine 38er in der Hand. Er leckte sich die Lip‐
    pen.
    »Junge, Junge«, sagte er leise, wobei er ein wenig pfiff. »Junge, Junge. Wie sind Sie da drauf gekommen, Lieutenant.«
    »Draufgekommen? Auf was?« fragte Degarmo und sah mich wei‐
    ter unverwandt an. »Was hatten Sie denn vor, Kumpel – schnell run‐
    ter, ’ne Zeitung kaufen? Und bei der

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