Die tote Schwester - Kriminalroman
sagte der Mann. Die Frau schüttelte den Kopf.
»Sagt Ihnen der Name Eva Weissberg etwas?«
Es dauerte eine Sekunde. Dann sah der Mann seine Frau an. Ein seltsamer atmosphärischer Umschwung zog durch den Raum. Es war ein besonderer Blickkontakt, ein Streifen, eine Unsicherheit.
Zbigniew wusste sofort, dass irgendetwas war.
»Eva Weissberg«, sagte er noch einmal.
Der Mann nickte.
»Da war doch dieser Brief.«
»Brief?«
»Wir haben einen Brief bekommen. Ist schon etwas her, vor einem Jahr?«
»Anderthalb Jahren«, korrigierte die Frau seltsamerweise.
»Ja, anderthalb Jahren etwa. Ein Brief von jemandem aus Amerika, der seine Schwester sucht. Und der hieß glaub’ ich Weissberg, wenn mich nicht alles täuscht.«
Zbigniews Hirn pochte. Sein Adrenalinspiegel war angestiegen.
»Samuel Weissberg? Ein ehemaliger Polizist in New York? Könnte er der Absender gewesen sein?«
»Ja, das ist möglich. – Warten Sie, wir haben diesen Brief noch irgendwo. Ich gehe ihn mal holen.«
Der Mann verschwand aus der Küche.
»Möchten Sie etwas Salat?«, fragte die Frau ihn freundlich.
Zbigniew hatte noch den Geschmack der Frühlingsrolle im Mund, Glutamat und Öl.
»Danke, nicht im Dienst.«
Die Frau lächelte. Zbigniew wurde bewusst, dass er so etwas wie einen Scherz gemacht hatte.
Es dauerte nicht lange, dann kam ihr Mann zurück, in seiner Hand einen Brief haltend.
»Hier. Bei uns kommt nichts weg«, sagte er. »Können Sie gerne reinschauen.«
Er reichte ihm den Brief.
Die Adresse war per Hand geschrieben, in sehr akkurater Art und Weise. Dazu ein Poststempel vom Herbst des vorletzten Jahres.
Zbigniew öffnete den Umschlag, entfaltete das Papier. Schreibmaschinenschrift, eine ältere Schreibmaschine. Der Text auf Englisch.
Eine Unterschrift, Samuel Weissberg.
Zbigniew stockte der Atem. Er überflog den Brief.
Weissberg fasste zunächst in knappen Worten die Geschichte seiner Schwester zusammen, die er vor wenigen Tagen auch Zbigniew und Lena erzählt hatte. Er erläuterte, dass sein Vater ihm bei der Flucht 1943 unter anderem einen Brief für seinen Onkel mitgegeben hatte; von dem Brief war jedoch nach der Ankunft in New York nur ein verwaschener, abgerissener Fetzen übrig, der nicht mehr lesbar war. Vor einigen Jahren, als bei der Polizei durch neue Labortechniken weit zurückliegende Fälle wieder aufgerollt wurden, kam er auf die Idee, den Brieffetzen analysieren zu lassen. In der Tat konnten ihm seine Kollegen vom Erkennungsdienst die Schrift auf dem Papier wieder lesbar machen. Neben Grüßen waren an einem Zeilenende die Worte »23 in der Immermann-« erkennbar. Samuel hatte gerätselt und recherchiert, ob dies ein neuer alter Hinweis auf den Verbleib seiner Schwester sein könnte. Im Sterbeort seiner Schwester, Büsdorf, gäbe es eine Straße dieses Namens nicht.
Samuel Weissberg bat die Bewohner der Kölner Immermannstraße 23, ihn zu kontaktieren, wenn sie irgendetwas über seine Schwester oder Gideon Weissberg wüssten oder einen Kontakt zu den Vorbewohnern der Adresse herstellen könnten. Es sei bloß ein vager Versuch unter vielen, aber er sei ihnen sehr dankbar für ihre Aufmerksamkeit und Hilfe.
Es folgte eine Angabe seiner Adresse und Telefonnummer.
Die Telefonnummer. Zbigniews Blick blieb hängen.
Hoffentlich stimmte sie noch. Er musste ihn anrufen.
Schnell.
»Wir konnten uns keinen Reim drauf machen«, sagte der Mann, als Zbigniew den Brief senkte. »Irgendwie ist der Brief dann in einer Schublade verschwunden.«
»Nein, das stimmt nicht ganz«, sagte die Frau, schüttelte resolut den Kopf. »Ich habe wohl versucht herauszufinden, wer hier vor sechzig Jahren gelebt hat. Aber das ist gar nicht so einfach; die Leute, von denen meine Eltern das Haus gekauft haben, sind schon längst gestorben. Und irgendwie wurde das dann immer diffuser, und da habe ich es schließlich aufgegeben.«
»Haben Sie Samuel Weissberg geantwortet?«, fragte Zbigniew.
»Nein«, sagte die Frau mit etwas schuldbewusster Miene. »Das ist mir jetzt auch sehr unangenehm, aber irgendwie … Wie das dann so ist … «
Zbigniew nickte. Er konnte es sich gut vorstellen. Man bemühte sich eine Zeit lang, und wenn man nicht weiterkam, traten neue Dinge in den Vordergrund. Das Alte geriet langsam in Vergessenheit.
»Also dieser Brief ist der einzige Kontakt gewesen, danach ist nichts wieder passiert? Weissberg hat sich auch nicht noch einmal gemeldet?«
»Nein«, antwortete die Frau. »Ich musste einige Zeit
Weitere Kostenlose Bücher