Die tote Schwester - Kriminalroman
lächelnd.
Der Herr macht nass, aber der Herr trocknet auch.
Mit einem Mal war die Umgebung des Maars von einer unglaublichen Stille erfüllt. Das Wasser, tief unten im Krater, bewegte sich nach einem kurzen Moment des Nachtröpfelns kein kleines bisschen mehr. Zbigniew fiel auf, dass es überhaupt keinen Wind gab, vermutlich aufgrund der Lage zwischen den Berghängen. Kein Vogel war zu hören, kein Insekt, kein Rascheln von Blättern.
Völlige Stille.
Das Totenmaar.
»Hören Sie es?«, fragte der Priester leise.
Zbigniew nickte, lauschte der seltsamen Stille. Es war das Nichts, das man hörte.
Und dann, erweckt durch eine winzige Wolkenbewegung hoch über ihnen, preschte plötzlich ein Sonnenstrahl hinter dem Berg hervor, ein greller Streifen von Licht, der auf der hinteren Hälfte des Maars und am gegenüberliegenden Berghang auftraf. Mit einem Mal war der gesamte Ort in ein unwirkliches Licht getaucht. Ein gelb-orangefarbenes Licht, das nicht nur Schönheit innehatte, sondern auch eine mysteriöse Gefährlichkeit. Das Licht der Pest, der Pest, die hier an diesem Ort vor fünfhundert Jahren gewütet und den gesamten Landstrich zu einem toten Landstrich gemacht hatte.
Ein Licht wie am Vorabend der Apokalypse.
Von Pfarrer Mehrer war kein Lebenszeichen zu entdecken gewesen, als Zbigniew den jungen Priester im Pfarrhaus von Schalkenmehren abgesetzt hatte. Er hatte sich herzlich bei ihm bedankt und war nach Gemünden gefahren, wo er den ehemaligen Amtsleiter in dessen Reihenhaus aufsuchte. Dieser gab ihm in seinem altdeutsch-rustikal eingerichteten, aber dennoch freundlich wirkenden Wohnzimmer bereitwillig Auskunft. Einen Tee nahm Zbigniew dankend an; nicht, weil er Tee sonderlich gern mochte. Es war erstaunlich, wie lange sich der Geschmack von Sambal Oelek im Mund halten konnte.
Mit der Errichtung der Gedenksteine selbst hatte der ehemalige Amtsleiter nichts zu tun gehabt, diese Maßnahme war unter seinem Vorgänger durchgeführt worden. Aber der freundliche ältere Herr hatte in seinem Bücherregal eine Festschrift stehen, die 1973 anlässlich der Errichtung der Steine – hochherzig betitelt als »Einrichtung eines jüdischen Friedhofs an der Weinfelder Kapelle« – herausgegeben worden war.
Zbigniew blätterte die kleine Broschüre von vielleicht dreißig Seiten durch. Nach allgemeinen Informationen über die Deportationen im Landkreis Daun widmete sich ein kurzes Kapitel Gideon und Anna Weissberg. Von den deportierten Juden gab es teilweise Fotos auf den vorderen Seiten; die Weissbergs hingegen blieben unbebildert. Zbigniew überflog den knappen Text, der für ihn keine neuen Informationen beinhaltete. Auf den letzten Seiten der Broschüre jedoch befanden sich Fotos vom neuangelegten jüdischen Friedhofsteil. Zbigniew fragte nach einer Lupe, um seine Vermutung zu überprüfen.
Der Grabstein von 1973 hatte noch keine Inschrift mit dem Namen Eva Weissbergs.
»Sehen Sie hier«, hielt Zbigniew dem Amtsleiter das Bild unter die Nase, »auf dem heutigen Gedenkstein auf dem Friedhof steht noch ein weiterer Name.«
Der ehemalige Beamte nickte und erläuterte, dass es damals ein Problem gewesen war. Sie hatten nicht gewusst, woher sie die Mittel nehmen sollten.
»Die Mittel?«
Er hatte nun Zbigniews volle Aufmerksamkeit. Und dann erzählte er die Geschichte der neuen Inschrift. Eine Geschichte, die er selbst miterlebt hatte, weil sie zu seiner Amtszeit geschehen war.
In den Achtzigerjahren war ein alter Mann im Rathaus zu Daun aufgetaucht, der ihm von der am Ende des Kriegs getöteten kleinen Tochter der Weissbergs erzählt hatte. Der Mann hatte Kopien von Geburts- und Sterbeurkunde des Mädchens dabei, der Amtsleiter erinnerte sich genau, weil beide erst nach dem Krieg ausgestellt worden waren. Was nicht ungewöhnlich war, aber erst überprüft werden musste. Der alte Mann hatte ein Anliegen: Er wollte, dass der Name der Tochter in den Gedenkstein der Weissbergs graviert wurde. Diesem Wunsch wollte man von der Verwaltung gern entsprechen – aber es fehlte ein Etat, aus dem man die Mittel dafür hätte nehmen können. Der alte Mann hatte die Kosten schließlich selbst getragen, was dem Amtsleiter sehr unangenehm gewesen war – vermutlich konnte er sich deshalb noch so genau an den Vorfall erinnern. Die Daten für die neue Inschrift hatten sie aus Geburts- und Sterbeurkunde übernommen.
Irgendetwas gefiel Zbigniew nicht. Ihm war noch nicht klar, was es war.
»Wissen Sie, wann genau der Mann gekommen
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