Die tote Stadt: Frankenstein 5: Roman (German Edition)
selbst in einem Schöpfungstank in den Händen der Barmherzigkeit im fernen New Orleans herangewachsen und als Erwachsene zu Bewusstsein gekommen war, hatte sie weder Eltern gehabt, von denen sie Zärtlichkeit hätte lernen können, noch eine Kindheit, in deren Verlauf sie der Gegenstand der zärtlichen Sorge anderer hätte sein können. Sie war dazu erschaffen worden, Victor zu dienen und sich ihm widerspruchslos zu unterwerfen, und sie war darauf programmiert worden, die Menschheit zu hassen, insbesondere die ganz jungen Menschen. Selbst damals hatte Victor schon eine Welt vorgeschwebt, in der es eines Tages keine Kinder mehr geben würde, eine Zukunft, in der Sex keinen anderen Zweck als den Abbau von Spannungen hatte, eine Zeit, in der jeder Gedanke an eine Familie ausgerottet sein würde und die Angehörigen einer posthumanen Neuen Rasse nicht einander, nicht einem Land oder Gott, sondern nur Victor gegenüber zu Loyalität verpflichtet waren.
»Mommy ist in der Stadt und kauft mir neue Teddy bären«, sagte Chrissy.
Das hatte Michael ihr erzählt. In Wirklichkeit war ihre Mutter tot.
»Diese dumme Frau, die so getan hat, als ob sie meine Mommy wäre, hat meine Teddybären in Stücke gerissen.«
Die Mommy, die nur so getan hatte, als ob, war die Kommunitaristin, die die echte Denise Benedetto ersetzt hatte. Michael hatte Chrissy gerettet, und Carson hatte nur wenige Momente später die Replikantin getötet.
»Woher kam diese Mommy, die nur so getan hat, als ob, überhaupt?«, fragte Chrissy.
Sie wirkte so zerbrechlich wie eine Porzellanfigur. Die zutrauliche Wesensart des Mädchens und das verwundbare Herz der Kleinen führten dazu, dass Erika dicht vor den Tränen stand, doch sie hielt sie zurück.
»Tja, Schätzchen, vielleicht war das so wie bei manchen bösen Hexen im Märchen. Du weißt ja, dass manchmal ein bloßer Zauber genügt, damit sie aussehen wie andere Menschen.«
»Die Mommy, die nur so getan hat, als ob, war eine böse Hexe?«
»Vielleicht. Aber jetzt ist sie fort und kommt nie mehr zurück.«
»Wohin ist sie gegangen?«
»Ich habe gehört, sie haben sie in einen Kessel mit Gift geworfen, das sie selbst gebraut hatte, um es gegen andere Menschen anzuwenden.«
Jetzt wurden Chrissys Augen auch ohne die Unterstützung durch heiße Schokolade groß. »Das ist ja irre cool.«
»Sie hat versucht, sich in einen Schwarm Fledermäuse zu verwandeln und aus dem Hexenkessel in die Freiheit zu fliegen«, sagte Erika, »aber die Fledermäuse waren alle noch mit dem Gift überzogen, und sie haben sich – puff! – in eine Dunstwolke verwandelt und sind für immer verschwunden.«
»Genau das sollte mit bösen Hexen passieren.«
»Und genau das ist passiert. Puff! «
Aus dem Arbeitszimmer, das weiter hinten am Flur lag, drang jetzt wieder Jockos aufgeregte Stimme in die Küche, denn er flippte beim Hacken regelrecht aus. »Bumm, bumm, zoom! Den Pudding hab’ ich, den braucht ihr nicht mehr zu suchen, jetzt bringt mir den Kuchen!«
Chrissy legte ihr Plätzchen hin und sagte: »Dein kleiner Junge klingt ganz anders als alle anderen kleinen Jungen, die ich jemals gehört habe.«
»Das kann man wohl sagen. Er ist etwas Besonderes.«
»Noch eine Pflaume, noch eine Pflaume, noch eine Pflaume für mich! Jocko rüttelt den Cyberbaum, Cyberbaum schüttele dich! Aha, ahaha, aha, ahahaha!«
»Darf ich ihn kennenlernen?«
»Bald, meine Süße, du musst dich noch ein Weilchen gedulden. Er macht gerade seine Hausaufgaben.«
»Popel! Popel! Popel! POPEL ! Okay, okay. Na dann ... Du musst es schnippeln und schnippen, es kippeln und kippen, es neppen und nippen, zappeln uuunnd ZAPPEN ! Jocko ist der Größte überhaupt!«
Erika sagte: »Erinnerst du dich noch, was du mir erzählt hast, was dein Daddy über das Äußere und das Innere von Menschen gesagt hat?«
»Klar.«
»Jockos Inneres ist sehr hübsch.«
»Ich hoffe, er mag mich.«
»Jocko mag jeden.«
Chrissy sagte: »Spielt er gern Teestunde?«
»Ich bin sicher, dass er liebend gern Teestunde spielen würde.«
»Jungs mögen das normalerweise nicht.«
»Jocko möchte anderen immer eine Freude machen. Liebes, hast du dich schon mal vor etwas gefürchtet und hinterher herausgefunden, dass es gar keinen Grund gab, sich davor zu fürchten?«
Chrissy zog die Stirn in Falten, da sie über die Frage nachdachte. Dann strahlte sie plötzlich. »So wie bei Hunden.«
»Hast du dich vor Hunden gefürchtet?«
»Vor den großen mit den großen Zähnen.
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