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Die Tote vom Johannisberg

Die Tote vom Johannisberg

Titel: Die Tote vom Johannisberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Buslau
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kleinen Flur. Er ging wieder ins Bad. Ich sah durch die Tür, daß er sich bückte und irgend etwas zur Seite schob. Dann erhob er sich wieder, drehte sich um und hielt mir ein Blatt Papier entgegen.
    »Die überdeutlichen Zeichen«, sagte er, als habe er in einer Laienspielgruppe die Rolle des Propheten übernommen. Ich erkannte in dem Dämmerlicht dieselben schwungvollen Noten, die mir auch Satorius schon gezeigt hatte. Offenbar hatte der Professor jeden seiner Schüler mit Fotokopien seiner Entdeckung versorgt.
    »Ja, ja, ist ja gut«, beschwichtigte ich, doch Wolf ließ sich nicht beirren. Er war stark betrunken.
    »Wer die überdeutlichen Zeichen nicht zu sehen versteht, ist blind im Geiste und verdient es nicht, die Wahrheit zu erfahren!«
    Damit schlurfte er zurück ins Wohnzimmer. Anscheinend drohte eine Absenkung seines Alkoholspiegels. Warum Wolf die Partitur im Bad aufbewahrte, wußte der Himmel. Andererseits litten die Regale im Wohnzimmer unübersehbar an Überfüllung, und Wolf mußte eben ausweichen.
    Ein merkwürdiges Geräusch erklang.
    »Moment«, sagte Wolf und bückte sich. Dann hielt er sich etwas an sein Ohr. »Hallo?« fragte er, und erst jetzt begriff ich, daß da ein Telefon geklingelt hatte. Wolf sah mich mißtrauisch an. Anscheinend hinderte ihn meine Anwesenheit daran, offen zu sprechen. »Ist gut«, beendete er das Gespräch.
    »Hauen Sie ab«, sagte er zu mir und wies zur Tür. »Ich habe heute noch was vor.«
    Das Haus erzitterte wieder, eine Schwebebahn fuhr vorbei. Es war, als würde sich für einen Moment wie in einem Hologramm eine tiefere Dimension des Sehens öffnen. Alles, was sich im Wohnzimmer befand, wurde zu einem Schattenriß. Im Fenster zog wie in einem großen Aquarium die innen beleuchtete Bahn vorbei, gefüllt mit Menschen, die uns ausdruckslos entgegenblickten. Das Licht aus dem Wagen ließ im Raum sich langsam drehende Schatten entstehen.
    Schnell verließ ich die Wohnung. Als ich hinunter auf die Kaiserstraße kam, regnete es in Strömen.
    *
    Dieser Besoffene war erst einmal meine einzige Chance, weiterzukommen. Und wenn es die ganze Nacht dauerte. Ich bezog gegenüber in einem Hauseingang Posten. Von hier aus konnte ich Wolfs schwach erleuchtetes Fenster im ersten Stock sehen und war gegen die Nässe geschützt. Kaum jemand war mehr auf den Gehsteigen. Dafür ließ der Verkehr nicht nach. Laster ratterten durch die enge Straße. Pfützen spritzten auf. Ich drückte mich noch weiter in den Hauseingang hinein.
    Endlich ging in Wolfs Wohnung das Licht aus. Etwas später kam er auf die Straße. Er blickte sich verstohlen um, entdeckte mich nicht und ging die Straße hinunter. Er blieb zunächst auf seiner Seite, und so war es nicht besonders schwer für mich, ihn zu verfolgen.
    Nach einem kurzen Fußmarsch bremste Wolf seinen Schritt und schickte sich an, herüberzukommen. Der Verkehr war noch immer dicht, und so dauerte es eine Weile, bis er eine Lücke fand. Ich blieb stehen. Sein Ziel war offenbar eine Kneipe, die stadteinwärts auf der linken Straßenseite lag, direkt an der Ecke Nietzschestraße. Erst als Wolf darin verschwunden war, kam ich näher.
    Die Gaststätte hieß »Pfeiler 37«. Ihren Namen verdankte sie der Tatsache, daß die Stützpfeiler der Schwebebahn von Vohwinkel aus numeriert sind. Und die Kneipe, die Wolf besuchte, befand sich eben am siebenunddreißigsten.
    »Hier kocht der Chef - besuchen Sie uns trotzdem«, stand am Eingang zu lesen. Ich hätte es gern getan, weil ich jetzt wirklich hungrig war. Ich verkniff mir jedoch den Besuch und blieb draußen, die Tür immer fest im Blick.
    Wolf schlug sich innen offenbar den Bauch voll - ob mit fester oder flüssiger Nahrung, wußte ich nicht. Ich überlegte, ob es sich hier vielleicht um einen ganz alltäglichen Kneipenbesuch handelte. Nichts Ungewöhnliches, vor allem für einen Alkoholiker.
    Mein Verdacht bestätigte sich, als er nach einer Dreiviertelstunde wieder herauskam und diesmal auf der anderen Straßenseite den Weg zurück nach Hause antrat. Seine Tour war wohl beendet. Vielleicht hatte das ominöse Treffen in der Kneipe stattgefunden. Ich folgte ihm weiter und war nahe daran, aufzugeben. Der Regen hatte mich mittlerweile völlig durchnäßt.
    Doch Wolf ging nicht zurück in seine Wohnung. Er bog in einen kleinen Weg ein, der rechts von der Kaiserstraße abzweigte. Von hier aus kam man, wie ein Schild anzeigte, zu Fuß zum Bahnhof Vohwinkel. Zuerst ging es hinter einem Supermarkt vorbei, dann

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