Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
plötzlich auftretenden schweren Magen- beziehungsweise Darmbeschwerden durchaus hellhörig werde und gegebenenfalls die Polizei verständige. Wenn noch –«, er las aus seinem Notizbuch, »Blutungen, Krämpfe, Halluzinationen oder ähnliche Anzeichen hinzukommen, melde man dies grundsätzlich den Behörden. Sollte ein Patient jedoch Vorerkrankungen haben, deren übliche Symptome denen einer Vergiftung ähneln, wäre es denkbar, dass die Vergiftung nicht festgestellt werde. Die Dunkelziffer sei leider hoch, da schon triftige Gründe vorliegen müssten, um die trauernden Angehörigen mit solchen Vermutungen zu belasten.«
»Die trauernden Angehörigen, die möglicherweise die Täter sind«, warf Leo ein.
»Ich habe mich nach dem Patienten Gustav Lehnhardt erkundigt. Es hat eine Weile gedauert, bis sie ihn im Archiv gefunden hatten. Todesursache war Herzversagen infolge einer schweren Gastritis in Verbindung mit chronischen Magengeschwüren. Es wurde keine Sektion durchgeführt. Man hat den Toten ordnungsgemäß zur Bestattung übergeben.«
Leo überlegte. »Es wäre also denkbar, dass Gustav Lehnhardt auch an den verdammten Erbsen gestorben ist.«
Walther nickte. »Aber ich habe noch etwas anderes für dich, deshalb komme ich so spät. Es könnte mindestens ebenso wichtig sein.« Er legte eine Pause ein. »Als ich so durch die Klinik lief, fiel mir ein, dass Stratow vielleicht öfter in Henriette Strauss’ Wohnung war. Ich fuhr also ins Luisenkrankenhaus und fragte ihn nach der Sprühflasche, an die er sich tatsächlich erinnern konnte. Aber seine Liaison mit Strauss ist lange her, das half uns also nicht weiter. Ich habe ihn aufgefordert, er solle noch einmal nachdenken, alles könne von Bedeutung sein: Freunde oder Freundinnen, Arbeit, Angewohnheiten, Feindschaften, Wesenszüge, Vergangenheit, ob sie in bestimmten Dingen empfindlich gewesen sei, ob er von irgendwelchen Geheimnissen wisse … Ich habe alle Register gezogen.«
»Und Erfolg gehabt«, ergänzte Leo, »sonst würdest du mich nicht so auf die Folter spannen.«
»In der Tat«, sagte Walther triumphierend.
»Lehnbach, wieso steht das nicht in Ihrem Bericht?«, herrschte Leo den Gerichtsarzt am Telefon an.
»Wir haben uns ganz auf die Symptome der Vergiftung konzentriert. Wenn es nicht um ein Sexualverbrechen geht oder eine vaginale Untersuchung ausdrücklich angefordert wird, führe ich diese auch nicht durch«, erwiderte der Arztmit mühsam unterdrücktem Ärger. »Was glauben Sie, wie viele Leichen wir hereinbekommen? Und die meisten machen uns weniger Arbeit als Ihre Dr. Strauss, das können Sie mir glauben.«
Es hatte keinen Sinn, es sich mit dem Gerichtsarzt zu verderben. »In Ordnung. Rufen Sie mich bitte sofort zurück, wenn Sie das Ergebnis haben.«
Leo hängte ein und sah Walther an. »Stratow ist sich da wirklich ganz sicher?«
»Ja. Die Patientin war noch sehr jung, es war eine schwere Geburt, wie er sagt. Sie hatte Angst zu sterben. Dr. Strauss hat sich einfühlsam um sie gekümmert. Dann fragte die Patientin, ob die Ärztin Kinder habe. Dr. Strauss antwortete nicht sofort. Stratow wollte schon den Raum verlassen, als er hörte, wie Strauss leise sagte, sie habe vor Jahren ein Kind geboren. Es sei schmerzhaft, aber danach fühle man sich sehr glücklich.«
»Und er hat sie später nicht danach gefragt?«, wollte Leo wissen.
»Nein. Ihre Beziehung war damals schon beendet. Vielleicht war es ihm unangenehm, dass er es mitgehört hatte, die Worte waren ja nicht für ihn bestimmt. Außerdem hatte sie nie zuvor darüber gesprochen, und das hat er respektiert.«
»Niemand hat bei den Befragungen eine frühere Schwangerschaft von Henriette Strauss erwähnt«, meinte Sonnenschein nachdenklich.
»Weil möglicherweise niemand davon weiß«, warf Berns ein. »Ein uneheliches Kind, das wäre eine Schande für die Familie gewesen. Henriette Strauss war nie verheiratet. Außerdem wollte sie Medizin studieren oder war gerade dabei. Da konnte sie kein Kind gebrauchen, schon gar nicht ohne Ehemann.«
»Aber sie muss das Kind irgendwo geboren haben. Und wenn es überlebt hat, muss sie es zur Adoption freigegebenhaben. Darüber dürften offizielle Unterlagen existieren«, meinte Walther.
Leo schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. So etwas kann man auch finanziell regeln, wenn man es diskret anstellt. Vielleicht nicht hier in Berlin, aber wenn wir davon ausgehen, dass Henriette Strauss als junge Frau unehelich schwanger wurde
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