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Die Tote von Harvard

Die Tote von Harvard

Titel: Die Tote von Harvard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Cross
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einmal ihre
    »liebenswerten Tantenzüge« genannt hatte. Denn ja, vor ihr stand ihre Nichte. »Wie geht es dir, mein Liebes?« sagte Kate, als sie wieder zu Atem gekommen war.
    »Gut. Gut geht’s mir. Aber dich hier zu treffen – ich bin vollkommen fassungslos. Ausgerechnet dich – so absolut New York, wie du wieder aussiehst! Warum hast du mir nicht geschrieben, daß du kommst? Wissen es meine Eltern? Na, wahrscheinlich nicht. Du erzählst ihnen ja nie etwas, so behaupten sie jedenfalls. Wirst du in Harvard Vorlesungen halten? Kate, wie herrlich! Ich sorge dafür, daß alle kommen und dir applaudieren. Du mußt wissen, in Harvard wird nicht oft applaudiert – dazu sind alle viel zu sophisticated hier.
    Hier pfeift man lieber aus.«
    Während dieses Monologs wurden Kate und ihre Nichte (deren Vorname viel zu gewöhnlich war und die sich deshalb – wohl nach dem Mädchennamen ihrer Mutter, aber in Familiendetails war sich Kate nie so sicher – Leighton nannte, wie sie auch von jedermann, außer ihren Eltern, gerufen wurde) inmitten des nicht unbeträchtli-33

    chen Gewühls im zweiten Stock des Coop gestoßen und geschubst und verwundert angeguckt.
    »Du siehst erschöpft aus«, sagte Leighton. »Ich glaube, du brauchst einen Drink. Komm«, und damit schob sie ihre Tante auf die Rolltreppe. »Ich habe endlich gelernt zu trinken. Es war einfach zu blöde, immer als Puritanerin dazustehen, nur weil ich mich vor dem Zeug ekelte. Du willst bestimmt einen Martini, wie ich dich kenne, und ich trink einen Sombrero.«
    »Die Cocktailbar im Fakultätsclub öffnet aber erst um fünf«, sagte Kate, die sich diesmal ganz auf die Rolltreppe konzentrierte und sich, wie wohl viele, die in die Nähe des Harvard Square geraten, wie hundertundzwei fühlte, »…und außerdem habe ich eine Verabredung…«
    »Wir gehen ins ›One Potato Two Potato‹ «, sagte Leighton. »Mir nach!«
    Das Tempo, das Leighton vorlegte, ließ kein Gespräch zu, wohl aber, daß Kate in ihrem Gedächtnis kramte und alles hervorholte, was sie über ihre Nichte wußte. Viel war es nicht. Kate machte sich nicht viel aus Familien, schon gar nicht ihrer eigenen. Kates Eltern waren schon lange in den speziellen Himmel entschwunden, der ihnen dank ihrer hohen Geburt und unfehlbaren Rechtschaffenheit, davon waren sie ihr ganzes Leben lang überzeugt gewesen, sicher war. Ihre drei Brüder, alle wesentlich älter als sie, hatten Kinder produziert, die mit nur wenigen Ausnahmen so langweilig und eng-stirnig waren wie ihre Väter. Leighton, jetzt fiel es ihr wieder ein, war die jüngste aus der Brut ihres mittleren Bruders. Kate erinnerte sich vage, ihr ein angemessenes Geschenk, Bargeld, geschickt zu haben, als sie die Schule beendet hatte. Daß Leighton wie alle Fansler-Kinder (außer ihrem Neffen Leo) in Harvard studierte, war eine Selbstverständlichkeit. In Kates Jugend besuchte kein junges Mädchen, das auf sich hielt, das Radcliffe-College, es sei denn, es wohnte ganz in der Nähe. Heute ging jedes Mädchen, wenn irgendwie möglich, in dieses Institut, das inzwischen unter dem Namen »Harvard und Radcliffe Colleges« firmierte. Und wenn eine Fansler sich bewarb, dann wurde sie mit Wohlwollen, um nicht zu sagen mit Freude, begrüßt.
    »Ich gehe davon aus«, sagte Leighton, als sie das One Potato undsoweiter betraten, wo Kate große Zweifel beschlichen, ob man hier einen Martini zu mixen verstand, »daß du Geld bei dir hast. Ich habe nämlich keins. Verzeih, daß ich so plump darauf zu sprechen 34

    komme, aber ich hasse peinliche Szenen, wenn der Kellner mit der Rechnung kommt.«
    »Welches Zahlungsmittel hattest du denn vor, im Coop zu verwenden?« fragte Kate mit, wie sie hoffte, gebührender Tantenstren-ge. Die ganze Geschichte war schon ohne Nichte schlimm genug.
    Hätte Leighton eigentlich nicht längst Examen machen müssen?
    Kate war sich sicher, daß ihr Geschenk mehr als vier Jahre zurück-lag. Aber vielleicht, schloß sie betrübt, zieht sich die Zeit in die Län-ge, wenn man älter wird.
    »Also, im Coop nimmt einem doch keiner Geld ab«, sagte Leighton so entgeistert, als hätte Kate vorgeschlagen, mit Muschelperlen zu zahlen. »Einen Sombrero«, rief Leighton einer vorbeihuschenden Kellnerin zu, während sie sich mit einer heftigen Schulterbewegung ihres Capes entledigte, es unter den Arm klemmte und über den Boden schleifen ließ. Die Kellnerin, die sich gerade umwandte, trat prompt darauf, was aber keine von beiden zu bemerken schien.

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