Die Tote von Harvard
Minuten habe ich Probe.
O je, ich bin schon viel zu spät, aber ich komme erst im zweiten Akt dran. Hedda Gabler. Jetzt, wo ich es mir überlege, fällt mir auf, daß Professor Mandelbaum wie – wie Hedda Gabler ist, beide haben Mordsschi… Mordsangst, gegen die Konventionen zu verstoßen, aber in ihrem Innern kocht und brodelt es. Aber Hedda hätte es nicht passieren können, daß sie ausgerechnet an einem Ort wie Harvard ausflippt. Findest du nicht auch, daß Hedda und Professor Mandelbaum sich ähneln?«
Leighton hatte den Blick der Kellnerin erhascht und ›noch mal dasselbe‹ signalisiert. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte Kate. »Viele Frauen sind heute in dieser Lage. Das übliche Los der Frauen wollen sie nicht, haben aber Angst, den engen und gleichzeitig so viel Schutz bietenden weiblichen Domänen zu entsagen. Was du sagst, zeugt von Einsicht.«
»Benutzt du immer Worte wie ›entsagen‹?«
»Von Zeit zu Zeit. Lieber Gott, apropos Zeit. Ich bin schon viel zu spät für meine Verabredung um fünf und obendrein noch besoffen, wie du es so entzückend ausdrückst.«
Was als Wink gemeint war, verstand Leighton auch so. Sie kippte ihren zweiten Sombrero hinunter und erhob sich gleichzeitig.
»Kate, es war herrlich. Ich finde dich wunderbar. Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich dir auf Schritt und Tritt folge, das werde ich nämlich nicht tun. Aber wenn dein Name hier erst einmal in aller Munde ist, wird man dich natürlich mit mir in Verbindung bringen, und dann mußt du dich entweder zu mir bekennen oder mich verleugnen. Ich hoffe, die Entscheidung wird dich nicht um den Schlaf bringen. Vielen Dank für die Drinks.« Sie warf sich die Kapuze über 37
den Kopf und verschwand. Kate schaute ihr nach und fragte sich, ob es ihrer Nichte je gelingen würde, ihren Hang zum Dramatischen auf die Bühne zu beschränken. Sie mußte zugeben, daß sich dieser Fansler-Sproß überraschend gut herausgemacht hatte. Vielleicht konnte Nichte Leighton ihr sogar von Nutzen sein. Nun, sinnierte Kate und dachte gleichzeitig an ihren Lieblingsneffen, vielleicht kamen ja die bewährten Fansler-Gene in der jüngeren Generation wieder zum Tragen. Als sie bezahlte und sich wieder an den Grund ihres Aufenthalts hier erinnerte, kam sie zu dem traurigen Schluß, daß die Fansler-Gene beim einzigen weiblichen Exemplar ihrer Generation, nämlich ihr, auf Ärger aus zu sein schienen.
»Mein Gott«, begrüßte Sylvia Kate in der Cocktailbar des Clubs,
»du hast ja schon getrunken! Ich bin schockiert. Es ist doch erst fünf.
Wie ist dein Zimmer?«
»Die Beschreibung meines Zimmers will ich dir lieber ersparen«, sagte Kate und ließ sich in einen Sessel fallen. »Nur so viel: Erst wenn ich wieder von hier fort bin, werde ich vielleicht in der Lage sein, Harvard mit objektiven Augen zu sehen, vorher nicht. Das einzig Überraschende bisher war, daß ich meiner Nichte in die Arme gelaufen bin. Hedda Gabler und Griechisch, mit wehendem Umhang.
Meinst du, ich sollte lieber Mineralwasser trinken?«
»Sei nicht verdrossen, du hast allen Grund zur Freude«, sagte Sylvia, während sie den Kellner herbeiwinkte und ein Mineralwasser bestellte. »George fährt morgen früh. Komisch, erst jetzt fällt mir auf, daß sich George immer im Morgengrauen verabschiedet. Das ist einer seiner nettesten Charakterzüge. Du kannst also zu mir ziehen, bekommst dein eigenes Schlafzimmer mit Bad und hast all deinen geliebten Komfort. Zweitens wirst du morgen mit Janet zu Abend essen, bei ›Ferdinand’s‹. Sie erwartet uns beide. Aber ich werde dringende andere Verpflichtungen haben. Den Tisch für euch beide habe ich schon bestellt. Drittens wird dich das Frauen-Institut über-morgen offiziell begrüßen. Die Zeit bis dahin kannst du nutzen, das Warren-Haus zu erforschen.«
»Ich hab das Warren-Haus schon erforscht. Und in welchem Haus bekomme ich mein Büro?«
»Im Dunster. Es liegt ziemlich weit ab, fürchte ich, aber dafür geht es dort sehr musikalisch zu. Ich dachte mir, die Konzerte werden dir gefallen.«
»Und was denkt das Dunster-Haus, aus welchem Grund ich hier bin?«
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»Das Dunster-Haus denkt nicht. Es saugt einfach alles in sich auf wie ein Staubsauger. Die Pedelle halten dich für eine Lehrbeauftragte am Frauen-Institut, was ja der Wahrheit entspricht. Die Lehrbeauftragten werden immer auf die verschiedenen Häuser verteilt.«
»Warum die Pedelle, sind es denn zwei?«
»Ein Schritt in Richtung
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