Die Tote von Harvard
für den Winter versiegelt.
Bei Lüftungsbedarf schalten Sie bitte den Ventilator ein. Da es einer Belüftung schon lange bedurfte, stellte Kate den Ventilator an und wurde mit einem Schwall abgestandener Luft und lautem Surren belohnt. Sie stellte beides wieder ab und sah über den Ventilator hinweg zum Fenster hinaus auf die schönen Bäume, die sich im Januarwind bogen. Der Anblick versöhnte Kate ein wenig. Während sie ganz still dastand und hinaussah, lief ein Eichhörnchen die Dach-31
rinne entlang, blieb direkt vor ihrem Fenster sitzen, holte sich eine große Nuß aus der Backe und schob sie behutsam unter die Blech-einfassung des Fenstersimses. Vielleicht ein Geschenk von der Gro-
ßen Mutter, wie Hardy sie nennt, dachte Kate. Jedenfalls ein besseres Omen für ihre Harvard-Eskapade als dieser finstere Raum. Ein wenig besser gelaunt machte sie sich auf, Harvard und Cambridge zu erforschen, ehe sie Sylvia um fünf in der Cocktaillounge des Clubs treffen wollte.
Von ihrem Mansardenfenster aus hatte Kate das Warren-Haus sehen können, in dessen Mauern Janet so Befremdliches zugestoßen war. Jetzt ging Kate unter den herrlichen Bäumen über den Campus und betrat das Gebäude. Hinter den geschlossenen Türen zu ihrer Linken gingen Sekretärinnen, oder jedenfalls Menschen an Schreib-maschinen, ihrer geräuschvollen Arbeit nach. An der geschlossenen Tür zu ihrer Rechten hing ein Schild: Akademische Stellenvermittlung. Kate schüttelte sich vor Mitleid. Auch sie hatte einst eines solchen Amts gewaltet, und zwar in jenen schlechten Zeiten, als selbst Harvard-Absolventen kaum unterzubringen waren. Schnell, ehe irgend jemand auftauchen und sie fragen konnte, was sie wolle, ging sie die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Dort fand sie hinter einer offenen Tür den berühmten Salon des asthmatischen oder arth-ritischen Mr. Warren, der seine Tage auf der angrenzenden Glasveranda zugebracht hatte. Am Ende des Korridors entdeckte Kate das antike Badezimmer, das mit all seinem Mahagoni selbst dem Ver-richten der natürlichsten Bedürfnisse große Würde verlieh. Damentoilette stand auf dem kleinen Schild an der Tür, und darunter: Herrentoilette im ersten Stock.
Das Warren-Haus beherbergte das Büro des Rektors, die Stellenvermittlung für Akademiker und mehrere Sitzungszimmer. Trotz seines heiteren Charmes und alten Mahagonischmucks – dieses Haus war das Zentrum der anglistischen Fakultät in Harvard. Im Augenblick wirkte es zwar verlassen, aber die Zeichen alter Macht und eingefleischten Patriarchats waren unübersehbar. Kate verspürte plötzlich das starke Bedürfnis nach frischer Luft. Sie verließ das Gebäude, atmete tief durch, überquerte die Quincy Street und machte sich auf die Suche nach einer Buchhandlung. Stundenlang herum-schmökern, danach stand ihr jetzt der Sinn. Für dieses Laster waren die Buchhandlungen in Harvard wie geschaffen. Anders als die meisten New Yorker Buchläden hatten sie zu jedem Thema eine große Auswahl auf Lager und nicht nur jene Titel, die während des vergan-32
genen halben Jahres Aufsehen erregt hatten.
Kate betrat das Coop, wie sich Harvards Buchhandels-Cooperative abkürzte. Sie ignorierte die Bestseller im Parterre.
Kaum hatte sie aber die Rolltreppe betreten, um sich nach oben zu den Taschenbüchern befördern zu lassen, als ihr ein exzentrisches Geschöpf zujubelte, das auf der anderen Rolltreppe abwärts schwebte.
»Tante Kate! Was um Himmels willen machst du hier?« rief das Wesen für alle hörbar, und so entgeistert, dachte Kate, als träfe sie mich als Akteurin in einem Massagesalon. Sie starrte so ungläubig zu ihrer Nichte hinüber – falls es denn ihre Nichte war – , daß sie von der Rolltreppe stolperte, als diese ihren Zweck erfüllt und sie zum zweiten Stock befördert hatte. Schwer auszumachen, ob es sich um ihre Nichte handelte oder nicht, denn die Kapuze des langen, fließenden Capes, unter dem sich die unvermeidlichen Jeans verbar-gen und höchstwahrscheinlich auch das unvermeidliche T-Shirt, fiel der Gestalt tief ins Gesicht, die nun mit der Behendigkeit einer Hexe auf ihrem Besenstiel von der abwärtsfahrenden Rolltreppe auf die nach oben sprang. Die langsame Aufwärtsbewegung war ihre Sache nicht. Sie nahm drei Stufen auf einmal und stand dann atemlos vor Kate, sah sie voller Freude an und umarmte sie schließlich mit sol-chem Überschwang, daß Kate nicht anders konnte, als den Eigenschaften in sich freien Lauf zu lassen, die irgend jemand
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