Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
Michaels Blut handeln musste. Aufmerksam sah Mabel sich um. In dieser Gegend gab es keine Bäume, am linken Straßenrand standen lediglich hölzerne Strommasten. Als Mabel von dem Unfall gehört hatte, war ihr sofort der Gedanke durch den Kopf geschossen, jemand habe ein Seil über die Straße gespannt, auf das Michael in vollem Tempo geprallt war. Jetzt, an Ort und Stelle, musste Mabel einsehen, dass die Umsetzung ihrer Theorie hier nicht möglich gewesen wäre.
„Außer jemand befestigt das Seil an einem Masten und hält es auf der anderen Seite fest“, sagte sie laut und begann, die beiden Masten, die sich in der Nähe der Unfallstelle befanden, auf Spuren zu untersuchen – leider ohne Erfolg. Es gab keine Einkerbungen oder Absplitterungen, was unweigerlich zu sehen gewesen wäre, wenn jemand ein Tau um einen der Masten geschlungen hätte, und auf der gegenüberliegenden Seite hätte die Hecke niedergetrampelt sein müssen, wenn sich darin jemand versteckt hätte. Warum aber hatte jemand einen Unfall auf schnurgerader Strecke? Das Wetter war trocken gewesen, soviel Mabel wusste, hatte es auch keinen Nebel gegeben, und Michael beherrschte bestimmt sein Motorrad.
Vielleicht war er betrunken, überlegte Mabel, oder ein Tier ist über die Straße gelaufen, dem Michael ausweichen wollte. Das wären plausible Erklärungen für den Unfall, wenn es nicht die Verbindung zu Sarah Miller geben würde und wenn Mabel nicht beobachtet hätte, wie sich Victor Daniels mit dem jungen Mann stritt.
Langsam fuhr Mabel die Straße wieder zurück. Dabei fiel ihr ihre gestrige Vermutung, was die Beziehung zwischenRachel und Sarah betraf, wieder ein. Aufgrund des Unfalls hatte sie seit dem Morgen nicht mehr daran gedacht. Kurz entschlossen lenkte Mabel ihren Wagen nach Lower Barton. Es war jetzt zehn Uhr, wenn sie Glück hatte, würde sie Rachels Vater zu Hause antreffen.
Im Unkraut überwucherten Vorgarten spielten die Zwillinge mit Plastikgewehren, mit denen sie aufeinander zielten. Der eine sah Mabel skeptisch an und blaffte: „Was wollen Sie?“
„Ich würde gerne deinen Vater sprechen“, sagte Mabel und schaute sich um. „Ist deine Schwester Rachel zu Hause?“
„Nee, die ist einkaufen“, antwortete der andere Junge. „Paps ist in der Küche.“
Da die Haustür offen stand, klopfte Mabel an und rief: „Mr Wilmington? Sind Sie da?“ Da niemand antwortete, trat Mabel in die Diele, in der nach wie vor ein heilloses Durcheinander herrschte. Die Küchentür war einen Spalt breit geöffnet, und Mabel drückte sie weiter auf. „Mr Wilmington?“
Denzil Wilmington war ein großer, bulliger Mann. Scheinbar ohne Hals saß sein kantiger Schädel auf einem massigen Körper, und eine Hand, deren Rücken dunkel beharrt war, umklammerte eine Bierflasche.
„Was woll’n Sie? Wir kaufen und spenden nichts. Haben selbst kaum genug zum Leben.“
Er nuschelte stark und seine Augen waren gerötet.
„Guten Morgen, Mr Wilmington.“ Mabel versuchte, so freundlich wie möglich zu lächeln. „Ich bin eine Bekannte von Rachel und würde gerne mit ihnen über das Mädchen sprechen.“
Aus zusammengekniffenen Augen musterte er sie von oben bis unten und machte keine Anstalten, Mabel einen Platz anzubieten, daher blieb sie abwartend an der Tür stehen.
„Hat sie was ausgefressen?“ Sein Lachen war gackernd und unangenehm. „Oder Ihnen die Ohren vollgejammert, wie schlecht es ihr geht? Würd’ mich nicht wundern, das Mädchen ist eine Memme. Flennt bei jeder Gelegenheit, anstatt ihre Arbeit zu tun.“
Unmerklich schlossen sich Mabels Hände zu Fäusten. Sie wunderte sich nicht, warum Rachel immer so still, schüchtern und verschreckt war. Denzil Wilmington war ein Mann, der einem Angst einflößen konnte – besonders wenn er getrunken hatte. Mabel vermutete, er gehörte zu der Sorte Alkoholiker, die je mehr sie getrunken hatten, umso gewalttätiger wurden. Rachels Verletzungen sprachen eine eindeutige Sprache. Mabel atmete tief ein und aus, dann sagte sie: „Ich möchte mit Ihnen über Rachels Freundschaft zu Sarah Miller sprechen.“
„Sarah, hä ... wer?“ Er winkte ab. „Rachel hat keine Freundinnen, hat dazu keine Zeit. Muss sich um ihre Geschwister kümmern, weil sie deren Mutter totgefahren hat.“
Für einen Moment überlegte Mabel, ob sie versuchen sollte, Denzil Wilmington zu überzeugen, dass der Tod seiner Frau ein tragischer Unfall gewesen war, an dem Rachel keine Schuld trug. Sie befürchtete jedoch, sie
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