Die Tote
Uniformierte zog die Frau von Hohstedt weg und rief sie zur Ordnung. »Frau Wildner, nun beruhigen Sie sich mal!«
Charlotte, die gerade die Anmeldung betreten hatte, schmunzelte in sich hinein, als sie sah, wie die Frau auf den Uniformierten einprügelte. »Sie verstehen das nicht, meine Tochter läuft nicht weg! Warum tun Sie nicht endlich was!«
Charlotte ging zu den beiden und hielt der Frau die Hand hin.
»Guten Tag, mein Name ist Wiegand. Kann ich helfen?«
Frau Wildner hatte kurze schwarze Haare und ein verquollenes, schmales Gesicht. Sie starrte Charlotte einen Moment sprachlos an und brach dann in Tränen aus.
»Die wollen mir alle nicht glauben!«, schluchzte sie. »Meine Tochter ist verschwunden, und alle sagen, sie ist weggelaufen. Aber sie läuft nicht weg!«
»Erzählen Sie mir alles, dann wollen wir sehen, was wir tun können. Kommen Sie mit.«
Charlotte nahm den Arm der Frau und führte sie zum Fahrstuhl. Sie folgte ihr willig. Hohstedt und der Uniformierte schauten den beiden Frauen verdutzt hinterher.
Im Büro stellte Charlotte Frau Wildner eine Tasse von ihrem selbst gebrühten Kaffee hin und bat sie dann zu erzählen.
»Meine Tochter – sie heißt Alina.«
Frau Wildner schob ihr das Foto eines lachenden hübschen Teenagers mit rundlichem Gesicht und braunen langen Haaren zu. Charlotte schätzte das Mädchen auf höchstens fünfzehn.
»Sie ist gerade sechzehn geworden und seit gestern verschwunden. Sie wollte nach der Schule zu ihrer Freundin und dann heute Nachmittag wieder nach Hause kommen. Aber sie ist nicht gekommen, und bei ihrer Freundin ist sie überhaupt nicht gewesen!« Frau Wildner sah Charlotte beschwörend an. »Sie müssen was tun! Wenn ich mir vorstelle …« Die Frau vollendete den Satz nicht, aber Charlotte wusste ohnehin, was in ihrem Kopf vorging. »Hier, ich hab extra einen Schal von ihr mitgebracht, Sie können doch mit Hunden nach ihr suchen!«
»Haben Sie bei allen Freundinnen angerufen? In der Schule, vielleicht wissen die Lehrer …«
Frau Wildner schüttelte heftig den Kopf. »Das hab ich doch Ihren Kollegen alles schon gesagt. Ich habe alle angerufen, ihr Handy ist ausgeschaltet, in der Schule ist sie heute gar nicht gewesen und gestern auch nicht. So tun Sie doch endlich was!« Sie legte ihren Kopf in beide Hände und weinte.
Charlotte stand auf. »Geben Sie mir die Handynummer Ihrer Tochter, wir werden versuchen, sie zu orten, und eine Anrufliste erstellen lassen.«
Frau Wildner beruhigte sich, endlich wurde etwas getan. Charlotte führte ein Telefonat und wandte sich dann wieder Frau Wildner zu.
»Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern Morgen, als sie zur Schule wollte.«
»Aber da ist sie nicht gewesen?«
»Nein.«
»Und ihre Freundin hat ebenfalls keine Ahnung, wo sie sein könnte?«
»Nein, die ist ja auch beunruhigt«, schluchzte Frau Wildner.
»Tatsächlich.« Charlotte würde mit dem Mädchen reden. Meistens wussten die Freundinnen mehr, als sie zugeben wollten.
»Hatte Ihre Tochter einen Freund?«
Frau Wildner schnäuzte sich. »Nein, sie interessiert sich nicht für Jungen.«
»Wissen Sie das genau?«
»Natürlich!«, kreischte Frau Wildner. »Gott sei Dank ist das Mädchen vernünftig und lässt sich nicht mit Jungen ein. Die drehen einem nur Kinder an und verschwinden dann von der Bildfläche.«
»Wie kommt sie zur Schule?«
»Zu Fuß, wir wohnen an der Badenstedter Straße. Sie geht auf die IGS Linden.«
»Was ist mit ihrem Vater?«, fragte Charlotte.
Frau Wildner friemelte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. »Ihr Vater hat mich schon vor Alinas Geburt verlassen. Er hat sich nie um seine Tochter gekümmert. Alina kennt ihn gar nicht.«
»Vielleicht …«, Charlotte zögerte, »… wollte sie denn nie wissen, wer ihr Vater ist?«
»Doch. Ich hab ihr gesagt, dass er nicht in Hannover lebt, aber das stimmt nicht. Er wohnt in Linden, kann gut sein, dass sie ihm schon mal über den Weg gelaufen ist, ohne es zu wissen. Ich will nicht, dass sie Kontakt zu ihm aufnimmt, er ist … er war ein paar Jahre im Gefängnis.«
»Weswegen?«
»Er … hat Probleme mit Drogen.«
Aha, dachte Charlotte. Noch ein Kandidat, mit dem sie reden musste. Sie nahm Frau Wildners Hand.
»Können Sie mir sonst etwas sagen, das uns weiterhelfen könnte? War Alina irgendwie verändert in letzter Zeit?«
»Nein.« Frau Wildner fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare, sodass sie kreuz und quer vom Kopf
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