Die Tote
setzte Charlotte die Jugendliche vor ihrer Haustür in der Hindenburgstraße ab und wartete, bis sie von ihrer Mutter unter Tränen in Empfang genommen wurde.
Komisch, dachte sie, als sie die List ansteuerte. Sie fand, das Mädchen benahm sich völlig normal – für eine Fünfzehnjährige. Falls man bei Pubertierenden überhaupt von normal reden konnte. Sie glaubte nicht, dass das Mädchen süchtig war. Aber dieser Weinlaub hatte einen seltsamen Eindruck auf sie gemacht. Sie wusste nur nicht so genau, wieso. Doch das sollte sie noch erfahren.
Als Charlotte ihre Wohnung betrat, überfiel sie ein schlechtes Gewissen. Bergheim hatte im Laufe des Tages mehrfach angerufen, aber sie hatte nicht die Kraft gehabt, sich mit familiären Problemen auseinanderzusetzen, und hoffte, dass er irgendwie mit ihrer Mutter klargekommen war. Immerhin roch es gut. Nach Gulasch oder jedenfalls was Fleischigem. Genau das Richtige für die beiden Männer im Haus. Sie selbst hatte eher das Bedürfnis nach etwas Hochprozentigem. Wodka vielleicht.
Sie hörte Stimmen in der Küche. Freundliche Stimmen, die über angenehme Dinge sprachen. Jedenfalls hoffte sie das und ging hinein. Am Tisch saß ihre Familie beisammen: Mutter, Lebensgefährte, Stiefsohn. Nur ihr Vater und ihre Schwester Andrea mit ihrem Sohn fehlten. Aber man nimmt, was man kriegt. Charlotte ignorierte Bergheims vorwurfsvollen Blick und ließ sich auf einen der drei verbliebenen freien Stühle sinken.
»Ach, Leute, ich bin völlig erledigt.«
Ihre Mutter sprang wie auf Kommando auf.
»Kind«, sagte sie und holte einen Teller aus dem Schrank. »Ich hab ungarisches Gulasch gekocht, das magst du doch so gern.« Dabei häufte sie einen Berg Nudeln mit dem köstlich riechenden Fleischgericht auf den Teller und stellte ihn vor sie hin.
»Danke, Mama«, seufzte Charlotte, »aber ich kann wirklich nichts essen.«
Sie warf Jan, der unbeeindruckt seine Nudeln in sich hineinschaufelte und dabei auf seinem Laptop herumhackte, einen Blick zu. Er nahm sie gar nicht wahr. Na ja, dachte Charlotte, der arme Kerl ist im Abiturstress. Da muss man Verständnis haben. Sie drückte Bergheim, der seinen leeren Teller weggeschoben hatte und sich mit verschränkten Armen zurücklehnte, einen Kuss auf die Wange. Er reagierte unterkühlt, war beleidigt.
»Wieso gehst du eigentlich nie ans Handy?«, wollte er wissen.
Was hättest du mir schon groß erzählen können, dachte Charlotte, sagte aber nur, dass es ein furchtbarer Tag gewesen war, und erzählte von der Babyleiche. Das ließ auch Bergheim nicht kalt, und er strich ihr leicht über die Wange, was beinahe einen Tränenausbruch zur Folge gehabt hätte.
»Hat Papa sich gemeldet?«, fragte sie, um von sich abzulenken.
Ihre Mutter, die lustlos in ihrem Essen herumstocherte, schüttelte den Kopf. »Nein, und ich würde auch nicht mit ihm reden wollen. Er lügt, wenn er den Mund aufmacht.«
Charlotte wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, war aber verwirrt, weil Bergheim ihr unbemerkt etwas mitzuteilen versuchte.
»Leute«, sagte sie und stand auf, »nehmt es mir nicht übel, aber ich geh jetzt duschen und dann ins Bett. Bin völlig erledigt.«
»Jetzt schon?« Ihre Mutter sah erstaunt auf ihre Armbanduhr. »Es ist ja gerade mal neun!«
»Egal«, antwortete Charlotte, »gute Nacht.«
Sie hatte aber keineswegs die Absicht, schlafen zu gehen. Sie würde sich in aller Ruhe vor dem Fernseher volllaufen lassen.
VIER
Am nächsten Morgen war Bergheim schon früh auf den Beinen. Es war kaum sechs Uhr, als er Charlotte mit einer Tasse Kaffee weckte.
»Heute bekomme ich meinen Fuß zurück«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Hast du dran gedacht? Du musst mich hinfahren.«
»Hm«, murrte Charlotte und schälte sich langsam aus den Kissen. »Nein«, sagte sie und nahm dankbar den Kaffeebecher entgegen.
Glücklicherweise hatte es mit dem Volllaufenlassen am gestrigen Abend nicht mehr geklappt. Sie war schon nach dem ersten Wodka-Lemon eingeschlafen. Und das war gut so, stellte sie fest, als sie den ersten Schluck Kaffee nahm. Ihr Magen rebellierte nämlich, weil sie seit dem Schokoriegel gestern Nachmittag nichts mehr gegessen hatte.
»Du solltest mal langsam aufstehen, sonst gibt’s gleich Engpässe im Bad. Jan hat um neun Uhr Prüfung, und deine Mutter schläft eigentlich überhaupt nicht. Jedenfalls hab ich den Eindruck. Ständig wirbelt sie mit ihrem Putzlappen hier durch die Bude. Man könnte meinen, wir sind die reinsten
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