Die Tote
Charlotte her, kämpfte, wie jedes Mal beim Einsteigen, mit den sperrigen Dingern, aber heute machte ihn das nicht so wütend wie sonst. Heute war alles gut, denn heute war der lang ersehnte Tag, der ihn von seinen Krücken befreien sollte.
Charlotte chauffierte ihn zum Nordstadtkrankenhaus, wo sie an der Haltenhoffstraße parkte. Beim Aussteigen dauerte es wie immer eine Weile, bis Bergheim seine Krücken sortiert hatte und in Richtung Fußgängerampel losstakte. Von der anderen Seite näherte sich ein Leidensgenosse, der es besonders eilig zu haben schien. Er schwang seine Krücken wie ein Stabhochspringer und steuerte ebenfalls die Ampel an. Charlotte beobachtete, wie die beiden Invaliden in Stellung gingen, sich unauffällig musterten und, als die Ampel auf Grün schaltete, wie von Furien gehetzt über die Straße wuchteten.
Leider konnte Charlotte den Ausgang dieses Rennens nicht bis zum Ende verfolgen, weil ein Transporter neben ihr hielt und ihr die Sicht nahm. Aber sie nahm sich vor, Bergheim heute Abend danach zu fragen.
* * *
Was war denn bloß geschehen? Sie hatte doch alles richtig gemacht. Warum hatte er sie dann festgebunden? »Zu deinem eigenen Schutz«, hatte er gesagt, aber das glaubte sie ihm nicht. Warum sollte sie das schützen, wenn sie hier am Heizkörper hing? Sie tat sich doch nichts. Natürlich, er hatte ihr diese widerlichen Handschuhe angezogen, aber die hinderten sie nicht wirklich daran, an den Fingerkuppen zu beißen. Er wollte das nicht, das wusste sie. Aber wieso eigentlich?
Das konnte ihm doch ganz egal sein, solange sie tat, was er sagte. Sie schlotterte, ihr war kalt, das Nachthemd war so dünn. Sie hatte ihn gebeten, sich anziehen zu dürfen, aber das hatte er ihr verweigert. Er würde später wiederkommen, und wenn sie sich bis dahin gut benommen hatte, dann würde er ihr auch ihre Kleider bringen. Das hatte er gesagt. Aber sie war unsicher geworden. Er hatte schon sehr oft Dinge gesagt, und dann war hinterher alles ganz anders gekommen. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Sie trug schließlich die Verantwortung für ihr Kind – wenn es erst wieder zurück war.
In der Nacht hatte sie es weinen gehört. Wie gern hätte sie ihren Sohn in die Arme genommen und getröstet. Aber als sie an die Tür geklopft und gerufen hatte, war er reingekommen und hatte sie geschlagen. So sehr, dass sie nach einer Weile auf dem Teppichboden aufgewacht war und kaum den Kopf hatte heben können. Seitdem hatte sie schreckliche Angst, aber er hatte sie nicht wieder geschlagen, nur … sie kniff die Augen zusammen, um das Bild, das sich wieder in ihr Bewusstsein mogelte, loszuwerden. Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken, auf keinen Fall. Es würde schon alles gut werden.
Außerdem hatte er versprochen, gut für den Jungen zu sorgen, solange sie selbst nicht dazu in der Lage war. Eigentlich verstand sie nicht, warum sie nicht dazu in der Lage war, das hatte er ihr nie so richtig erklärt, nur, dass man ihr das Kind wegnehmen würde, wenn sie nicht aufhören würde, an sich herumzubeißen. Sie musste zugeben, dass ihr das schwerfiel. Es war so ein gutes Gefühl, wenn es wehtat. Sie zog die Beine an, die Füße waren kalt.
Durch die blinde Fensterscheibe fiel schmutzig weißes Licht auf den grauen Teppichboden. Ob wohl draußen die Sonne schien? Sie schluckte. Wie lange war sie nicht mehr in der Sonne gewesen? Sie hatte es vergessen. Sachte rieb sie mit der Nase über ihre Schulter, den Arm hinab, öffnete den Mund und biss zu, bis wohltuender Schmerz und der metallene Geschmack warmen Blutes ihr Erleichterung verschaffte. Sie war so müde, wollte schlafen … nur schlafen.
* * *
Die morgendliche Besprechung war eine Farce. Charlotte hüllte sich beleidigt in Schweigen und spielte mit ihrem Bleistift, während Bremer versuchte, sich bei den anderen Anwesenden, Schliemann, Hohstedt, Maren und Norbert Kruse von der Spusi, Gehör zu verschaffen, was ihm nicht wirklich gelingen wollte. Hohstedt hing gähnend über dem Tisch, während Schliemann versuchte, mit Maren zu flirten. Die hielt sich aber zurück und schielte zu Charlotte hinüber.
»Äh, Leute, wenn ich mal um ein bisschen Konzentration bitten dürfte …«, sagte Bremer und räusperte sich. »Inzwischen haben wir ja noch ein paar Meldungen von Leuten, die unsere Unbekannte am Bahnhof gesehen haben, aber keiner konnte sagen, woher sie gekommen war oder wohin sie wollte. Und ihre Identität und die des Säuglings
Weitere Kostenlose Bücher