Die Tote
das nächste Häppchen.
»Was ist mit Janina?«, versuchte Charlotte es erneut.
Aber Frau Dreyer hatte nur noch Augen für ihr Abendessen und deutete auf die Schnabeltasse mit Tee, die ihr Schwester Luise reichte.
Charlotte gab Hohstedt ein Zeichen. Die beiden verabschiedeten sich von Frau Dreyer und Schwester Luise und begaben sich zum Ausgang.
»Wenn das Mädchen tatsächlich hier bei ihrer Oma gelebt hat, dann wird das ja wohl jemand wissen. Wir werden uns mal mit den früheren Nachbarn unterhalten.«
Hohstedt sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Das wird aber dann echt knapp mit der Rückfahrt«, meckerte er.
»Willst du vielleicht morgen noch mal herkommen?«, fragte Charlotte verärgert.
»Ist ja schon gut«, murmelte Hohstedt und friemelte seinen Autoschlüssel aus der Tasche.
Die früheren Nachbarn von Frau Dreyer, ein älteres Ehepaar, das sich äußerlich nur dadurch unterschied, dass der Mann noch etwas mürrischer aus der Wäsche guckte als die Frau, waren nicht besonders glücklich darüber, dass die Polizei bei ihnen klingelte. Sie hatten mehrere Jahre dieselbe Etage wie Familie Dreyer bewohnt. Zuerst war der Mann gestorben, dann die Tochter mit einem windigen Langhaarigen abgehauen. Frau Dreyer war in den letzten Jahren kaum noch aus der Wohnung gekommen. Deswegen hatte man auch immer das Treppenhaus für sie putzen müssen, wenn sie an der Reihe war. Ein junges Mädchen hatte nicht bei Frau Dreyer gewohnt. Die war schon seit Jahren allein. Wenn da noch wer gelebt hätte, dann hätten sie das mitgekriegt. Man achtete natürlich darauf, wer hier ein und aus ging. Da hätte kein junges Mädchen gelebt. Wär ja wohl auch noch schöner. Dann hätte die ja wohl das Treppenhaus putzen können. Aber die jungen Leute heutzutage waren ja alle faul und egoistisch.
Charlotte und Hohstedt verabschiedeten sich bald und machten sich auf den Heimweg. Hohstedt drückte kräftig aufs Gas, und glücklicherweise hatte sich der Stau Richtung Hannover aufgelöst. Sie saßen schweigend nebeneinander. Charlotte grübelte, während Hohstedt in seinem CD -Fundus im Handschuhfach herumwühlte.
»Bist du gar nicht neugierig?«, fragte Charlotte, als Hohstedt endlich gefunden hatte, was er suchte.
»Was meinst du damit?«, wollte er wissen und legte die CD ein.
»Meine Güte, wo das Mädchen gewesen ist in den letzten anderthalb Jahren. Bei ihrem sogenannten Vater …«, Charlotte malte Gänsefüßchen in die Luft, »… war sie nicht, weil sie zu ihrer Großmutter ziehen wollte. Dort ist sie aber anscheinend nie angekommen. Wo zum Kuckuck ist sie gewesen? Und was meint die alte Frau damit, dass der Heimann ihre Tochter umgebracht haben soll?«
Du hast mich tausendmal belogen …
»Kannst du das mal leiser machen?«
Du hast mich tausendmal verletzt …
»Wenn’s sein muss«, brummte Hohstedt. »Aber da stimme ich eigentlich der Schwester zu. Würde das nicht wörtlich nehmen, was eine Frau sagt, die nicht mehr ganz klar im Kopf ist. Und selbst wenn … wahrscheinlich hat sie nur gemeint, dass er sie in den Selbstmord getrieben hat. Und selbst das ist fraglich.«
»Du hast den Typen doch erlebt«, wandte Charlotte ein, »dem würde ich alles zutrauen. Auch einen Mord. Und es gab ja tatsächlich eine Untersuchung.«
»Die aber nichts Verdächtiges ergeben hat«, vollendete Hohstedt Charlottes Überlegung, während er rhythmisch mit den Fingern auf das Lenkrad einhieb.
Du bist der Wind in meinen Flügeln …
Charlotte schaltete den CD -Player aus.
»Hey«, protestierte Hohstedt, »was soll denn das?«
»Andrea Berg kannst du dir immer noch anhören. Überleg dir lieber, wie wir rausfinden, wo Janina gewesen ist«, sagte Charlotte.
»Müssen wir das denn rausfinden? Wir haben sie identifiziert, ansonsten wissen wir ja nicht mal, ob bei dem Mädchen überhaupt ein Verbrechen vorliegt, was bei dem toten Baby ja ohne Frage der Fall ist. Ich finde, wir sollten uns eher auf die realen Fälle konzentrieren, als irgendwo Verbrechen zu konstruieren, wo wahrscheinlich gar keine sind.«
Charlotte warf Hohstedt einen giftigen Seitenblick zu. »Irgendwo muss sie sich ja aufgehalten haben, nachdem sie mit sechzehn abgehauen ist. Und irgendwer muss wissen, wo sie war. Bestimmt hat sie nicht allein gelebt, immerhin hat sie ein Kind bekommen, von dem wir nicht wissen, wo es ist und ob es überhaupt noch lebt. Und soll ich dir was sagen …« Sie stemmte die Füße gegen die Rückwand ihres Fußraums,
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