Die Tote
um.
»Siehst du, Junge, ich will ja nur ein paar Hindernisse beiseiteräumen«, beendete Wiegand seine Ausführungen und klopfte Bergheim wohlwollend auf die Schulter. »Meine Ehe ist mir wichtig«, sagte er leutselig. »Natürlich … wenn einem mal ’ne schöne Frau über den Weg läuft. Da guckt man doch nicht weg! Oder?« Er kicherte. »Aber das ist ja wohl auch kein Verbrechen. Man stürzt sich ja nicht gleich drauf und …«, er rückte näher an Bergheim heran, »unter uns gesagt, so wie früher kann man ja auch nicht mehr … du verstehst, was ich meine.«
Er zwinkerte und hob sein Glas. Bergheim fand, es war an der Zeit zu gehen. Er wollte Charlotte eine SMS schicken, musste aber feststellen, dass er sein Handy im Auto gelassen hatte, und ging kurz auf den Parkplatz, um es zu holen.
Um halb acht betrat Charlotte mit einem diffusen Schuldgefühl ihre Wohnung in der Gretchenstraße. Sie hatte sich nicht ausreichend um die Scheidungspläne ihrer Mutter kümmern können, und ihren Vater hatte sie auch nicht ausfindig gemacht.
Außer ihrer Mutter war niemand zu Hause. Wo war Rüdiger? Sie hatte ihn zuletzt in der KFI gesehen. Er hatte zwar versucht, sie zu erreichen, aber ihr keine Nachricht hinterlassen. Ein Versuch, ihn anzurufen, scheiterte. Entweder hatte er sein Handy nicht dabei, oder er hörte es nicht. Auf jeden Fall ging er nicht ran.
Charlotte warf ihr Handy auf die Couch und ging zu ihrer Mutter in die Küche. Die saß am Tisch und stierte auf einen Prospekt, der Wellnesswochenenden anbot.
Sie legte ihrer Mutter die Hand auf die Schulter und drückte ihr einen Kuss auf das weiße volle Haar.
»Alles klar?«, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst fragen sollte.
Ihre Mutter rührte sich zunächst nicht. Dann stand sie auf.
»Ich sollte wieder nach Hause fahren. Ich falle euch doch bloß auf die Nerven mit meinem Kummer. Und du hast so viel um die Ohren.« Sie sah ihre Tochter liebevoll an und strich ihr braunes Haar zurück.
»Hast du mit Papa gesprochen?«, fragte Charlotte.
»Nein, aber ich muss mir wohl langsam überlegen, wie’s weitergehen soll.«
»Allerdings«, antwortete Charlotte, »und bis dahin bleibst du hier. Wir wissen ja noch gar nicht, was eigentlich los ist.«
Mutter Wiegand klopfte ihrer Tochter leicht auf die Wange. »Soll ich uns Tee kochen?«
»Ja, bitte. Und ich brauch was zu essen, ich sterbe vor Hunger.«
Charlotte ging ins Bad, und ihre Mutter machte sich am Herd zu schaffen. Zehn Minuten später kontrollierte Charlotte ihr Handy. Endlich! Rüdiger hatte eine SMS geschickt. »Bin im Courtyard an der Bar. Dein Vater ist hier. Komm und lös mich ab!«
Charlotte stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Gott sei Dank, ihrem Vater war zumindest nichts passiert, und er war nicht auf dem Weg nach Amerika oder sonst wohin. Er war hier in Hannover. Aber wieso war er nicht zu ihr gekommen? Wahrscheinlich, weil er ihrer Mutter nicht über den Weg laufen wollte. Aber wieso war Rüdiger bei ihm?
Sie war zwar todmüde, aber sie musste zum Courtyard und endlich dieses Chaos in Ordnung bringen. Aber vorher musste sie essen. Ihrer Mutter würde sie sagen, sie müsse zu einem Einsatz. Nachdem sie in aller Eile gegessen hatte – es gab Kartoffelsalat mit Würstchen –, begab sie sich zur Sedanstraße, wo ihr Wagen parkte.
Das Courtyard-Hotel lag idyllisch am Maschsee, ganz in der Nähe vom Stadion und vom Schützenplatz. Charlotte stellte ihren Wagen am Rudolf-von-Bennigsen-Ufer ab und ging die paar Schritte bis zum Nordufer zu Fuß. Die untergehende Frühlingssonne warf ein warmes Glitzern auf die Wasseroberfläche. Wie immer waren viele Jogger unterwegs. Charlotte ging an der Statue des Fackelträgers vorbei und warf einen Blick auf die großen mit Palmen bepflanzten Kübel, die im Sommer das Nordufer zierten und dem See eine maritime Atmosphäre verliehen.
Charlotte betrat das Hotel und ging zur Bar, wo ihr Vater und Bergheim an der Theke saßen. Werner Wiegand bestellte gerade ein neues Bier, während Bergheim, gelangweilt den Kopf in die Hände gestützt, in ein Wasserglas stierte.
Beide sahen Charlotte nicht kommen, und als sie Bergheim die Hand auf die Schulter legte, erschrak er zunächst und seufzte dann erleichtert.
»Charlotte, gut, dass du da bist«, murmelte er und wandte sich dann lächelnd an seinen Schwiegervater in spe, der Charlotte scheel von der Seite ansah.
»Werner, ich glaube, ihr habt euch eine Menge zu erzählen.
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