Die Tote
sie wollte.
Vielleicht sollte sie etwas essen? Irgendwo musste ein Tablett mit Broten und einer Flasche Apfelsaft stehen. Sie musste sich lange darauf konzentrieren, bis sie in der Lage war, den Kopf zu heben und nachzusehen. Ja, genau, da vor der Tür stand das Tablett. Es musste schon ziemlich lange da stehen, denn Käse und Aufschnitt – was war das eigentlich? Jagdwurst? – auf den Broten wellte sich unappetitlich.
Jenseits der Tür war alles still. Das war gut, dann war sie wohl allein. Beruhigt schloss sie die Augen, um wieder einzuschlafen. Schlafen war das Beste überhaupt. Dann merkte man nichts mehr, dachte nichts mehr, fühlte nichts mehr. Schlafen war Friede.
Und Sicherheit.
SECHS
Charlotte schritt wütend den Flur in der KFI 1 entlang, riss die Tür zu ihrem Büro auf, knallte sie hinter sich zu und ließ sich dann in ihren Stuhl fallen. Sie hatte Ostermann darüber informiert, dass die Tote am Kröpcke identifiziert war. Er hatte einen Riesenseufzer der Erleichterung losgelassen und war davon ausgegangen, dass der Fall damit erledigt sei, was Charlotte ganz und gar anders sah. Erstens war die Todesursache nicht eindeutig geklärt, zweitens, woher hatte das Mädchen die Kopfverletzung, und warum lag sie halb nackt an der Kröpcke-Uhr, und drittens: Wo war das Kind?
»Tja, das Kind«, hatte Ostermann gesagt, »es war bestimmt eine Totgeburt. Aber da müssen wir wohl nachforschen.«
»Allerdings«, hatte Charlotte geantwortet, »und diesem Heimann sollten wir auch mal auf den Zahn fühlen.«
Da war Ostermann nun wieder anderer Meinung gewesen.
»Was wollen Sie dem Mann vorwerfen? Dass er ein schlechter Vater ist? Das ist nicht das Problem der KFI . Und das Mädchen ist eines natürlichen Todes gestorben. Ob die Kopfverletzung durch einen Schlag oder einen Sturz entstanden ist, lässt sich nicht genau feststellen. Machen Sie’s nicht immer komplizierter, als es ist. Finden Sie raus, was es mit dem Tod des Babys auf sich hat, und suchen Sie nach dem vermissten Neugeborenen. Sonst liegt kein Verbrechen vor.«
Charlotte hatte ihn einfach sitzen lassen. Was sollte sie sich überhaupt um seine Anweisungen kümmern? In knapp zwei Wochen war er weg, und sein Nachfolger würde seinen Dienst erst in zwei Monaten antreten. Sie würde sich auch ohne offiziellen Auftrag um diesen Menschenfreund Heimann kümmern. Und was den Tod des Mädchens anbelangte, der war für sie ebenfalls alles andere als erledigt.
Es klopfte, und Hohstedt betrat das Büro.
»Bingo«, sagte er gut gelaunt, »unser Sonnenschein ist aktenkundig.«
»Prima.« Charlottes Laune hatte sich soeben merklich gebessert.
»Vor einem Jahr wurde gegen ihn ermittelt. Wegen Körperverletzung. Eine Frau hatte ihn angezeigt, die Anzeige aber dann zurückgezogen. Man hat sich außergerichtlich geeinigt.«
»Aha, hast du Namen und Adresse?«
»Ja, wohnt in Linden in der Badenstedter Straße und heißt Kathrin Myglish.«
»Wunderbar. Was ist mit Oma Dreyer?«
»Tja«, Hohstedt kratzte sich am Kopf, »das ist so ’ne Sache. Die wohnt nicht mehr in der Bahnhofstraße, sondern lebt seit über einem Jahr in einem Pflegeheim an der Okerstraße in Braunschweig. Laut Auskunft der Heimleiterin ist sie bettlägerig und debil wohl außerdem.«
»Na klasse.« Charlotte legte die Fingerspitzen zusammen. »Dann frage ich mich allerdings, wie sie sich um ihre Enkelin gekümmert haben soll.« Sie stand auf. »Komm, wir fahren sofort dahin.«
»Nach Braunschweig? Jetzt?« Hohstedt schnappte nach Luft. »Es ist nach vier, Feierabendverkehr. Wir brauchen mindestens eine Stunde auf der A 2 um diese Zeit, und heute ist Freitag! Außerdem gehen sie in diesen Pflegeheimen immer mit den Hühnern schlafen.«
»Weiß ich alles«, sagte Charlotte und zog ihren Blazer über. »Du fährst.«
Hohstedt fügte sich knurrend und holte seine Autoschlüssel. »Eigentlich hat Christine heute ihren babyfreien Abend. Die wird fuchsteufelswild, wenn ich nicht nach Hause komme.«
»Dann müssen wir uns eben beeilen«, antwortete Charlotte ungerührt und ging voraus. »Oder möchtest du, dass ich sie anrufe?«
»Nein, Mama«, feixte Hohstedt. »Ich komme schon alleine klar.«
Charlotte lächelte still, hoffte aber ebenso wie Hohstedt, dass sie nicht wieder im Stau landen würden, wie das auf der A 2 eigentlich die Regel war.
Aber sie hatten Glück, brauchten eine Dreiviertelstunde. Stau gab es nur in der Gegenrichtung. Aber darüber konnten sie sich auf dem
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