Die Tote
sie dem Kerl nicht den Hals umdrehte.
Zwanzig Minuten später betrat Charlotte äußerlich ruhig ihr Büro. Hohstedt atmete hörbar aus, als sie eintrat. Er nickte ihr zu, und sie gab ihm ein Zeichen, vor der Tür stehen zu bleiben. Hohstedt bezog Stellung und wartete.
Charlotte ließ sich Zeit. Heimann saß ihr schweigend gegenüber und spielte mit ein paar Euromünzen. Er sah ziemlich abgerissen aus, fand Charlotte. An der schwarzen Jacke fehlten zwei Knöpfe, das blau-weiß karierte Hemd war zerknittert und am Kragen abgewetzt. Er trug einen Schnäuzer, der seinen Mund fast vollständig verdeckte, was ziemlich unappetitlich aussah. Hellgraue, kleine Augen sahen sie lauernd an. Die Nase war lang und schmal.
»Eine Unverschämtheit ist das, mich hier so lange warten zu lassen«, maulte er.
Charlotte sah ihn scharf an. »Na, wenn Sie sonst keine Sorgen haben … vielleicht erklären Sie mir mal, was Ihre Tochter fast unbekleidet mitten in der City zu suchen hatte und wieso Sie sie nicht mal vermisst haben.«
Heimann verschränkte die Arme. »Meine Tochter ist schon vor über einem Jahr zu meiner Schwiegermutter nach Braunschweig gezogen. Ich habe seitdem keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt.«
»Wie heißt Ihre Schwiegermutter? Wo wohnt sie?«
»Sie heißt Dreyer. Maria oder Martha. Früher hatte sie eine Wohnung in der Bahnhofstraße. Ob sie da heute noch wohnt, weiß ich nicht.«
Charlotte konnte es einfach nicht fassen. »Sagen Sie, interessiert es sie gar nicht, woran Ihre Tochter gestorben ist?«
»Doch, woran ist sie gestorben?«
»Wir wissen es nicht genau«, antwortete Charlotte. »Die Ursache war wohl eine Blutung im Gehirn, aber wir wissen nicht, was diese Blutung ausgelöst hat. Sie hatte allerdings eine Kopfverletzung, die aber nicht die unmittelbare Todesursache war.«
Heimann spielte mit seinen Münzen. »Vielleicht ist sie gestürzt.«
Charlotte musterte den Mann einen Moment. »Nein«, sagte sie dann leise, »wahrscheinlich wurde sie geschlagen. Außerdem …«, Charlotte lehnte sich zurück, »sind Sie Großvater.«
Heimann hörte nur für einen Moment auf, mit seinen Münzen zu spielen.
»Bei der Mutter war ja nichts anderes zu erwarten«, murmelte er dann vor sich hin.
»Was meinen Sie damit?«, fragte Charlotte scharf.
Heimann sprang auf. »Ich meine damit, dass ihre Mutter eine Hure war!«, schrie er.
Hohstedt stellte sich neben ihn und drückte Heimann zurück auf seinen Stuhl.
Charlotte beobachtete den Mann schweigend. Anscheinend gab es ja doch etwas, das ihn aus der Ruhe brachte.
»So, so«, sagte sie, »Ihre Frau war also eine Hure, und deshalb sind Sie jetzt Großvater. Das müssen Sie mir erklären.«
»Ich muss Ihnen gar nichts erklären«, blaffte Heimann und stand erneut auf. »Wenden Sie sich an meine Schwiegermutter. Auch so eine Schlampe.« Er wandte sich zum Gehen.
»Lesen Sie eigentlich keine Zeitung?«, fragte Charlotte, die ebenfalls aufgestanden war. Heimann drehte sich um.
»Nein«, erwiderte er und wollte Hohstedt zur Seite schieben, aber der rührte sich keinen Millimeter vom Fleck.
»Und?«, bohrte Charlotte weiter. »Wollen Sie gar nicht wissen, was aus Ihrem Enkelkind geworden ist?«
»Nein. Lassen Sie mich jetzt vorbei, oder muss ich meinen Anwalt anrufen?«
Hohstedt blickte unsicher zu Charlotte hinüber, die Heimann fassungslos anstarrte.
»Sie halten sich für weitere Befragungen zur Verfügung. Haben Sie verstanden?«
Dann nickte sie Hohstedt zu. Er trat einen Schritt zur Seite und schickte Heimann einen mordlustigen Blick hinterher.
»Meine Güte, was für ein Arschloch.«
»Martin, du nimmst dir gleich mal deinen Computer vor. Ich wette, es gibt eine Akte über diesen Armleuchter. Und dann schau nach, ob diese Dreyer noch dort wohnt, und wenn nicht, finde raus, wo sie wohnt. Und dann werden wir der Oma mal einen Besuch abstatten. Irgendjemand wird sich wenigstens um die Beerdigung des Mädchens kümmern, wenn sie auch zu Lebzeiten allen egal war.«
* * *
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Eigentlich tat sie nichts anderes mehr. Es fehlte ihr einfach die Kraft, von diesem schrecklichen Bett aufzustehen. Wozu auch?
Sie kam ja nicht raus aus diesem Zimmer, das seit – wie lange eigentlich schon? – ihre ganze Welt war. Eine Welt, in der sich schreckliche Dinge abspielten. Aber wenn sie schlief, störte sie niemand. Im Gegenteil, er ließ sie in Ruhe. Kümmerte sich überhaupt nicht um sie. Das war genau das, was
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