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Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion
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Rückweg aufregen.
    In dem Pflegeheim wurde gerade das Abendessen serviert, als sie ankamen. Eine tüchtige Krankenschwester führte sie von der Rezeption einen langen Flur entlang zu einem Fahrstuhl.
    »Das ist gut«, sagte sie resolut. »Dann können Sie gleich beim Füttern helfen. Frau Dreyer bekommt nämlich so gut wie nie Besuch. Da sind wir froh, wenn mal jemand da ist und uns unter die Arme greifen kann.«
    »Wie … was, jetzt?«, stotterte Hohstedt.
    »Hast doch gehört«, sagte Charlotte, »wir gehen zur Fütterung.«
    Die Fahrstuhltür öffnete sich. Sie traten ein und fuhren in den dritten Stock.
    »Sagen Sie«, Charlotte warf einen Blick auf das kleine Namensschild, das an dem weißen Kittel über einer üppigen Brust prangte, »Frau Koch …«
    »Schwester Luise«, wurde sie unterbrochen.
    »Okay, Schwester Luise, kümmert sich denn niemand um die Frau Dreyer? Wer hat sie eingewiesen?«
    »Eingewiesen hat sie sich selbst, als sie noch ein bisschen besser beieinander war. Sie hat ja wohl keine Verwandten mehr. Ihre Tochter und ihr Mann sind tot, und Geschwister gab es wohl nicht. Das war vor etwas mehr als einem Jahr. Da konnte sie sich kaum noch bewegen. Hat schweres Rheuma, schon seit ihrer Jugend, steht in der Akte. Mittlerweile ist sie ziemlich zusammengerutscht. Geistig, meine ich. Ist ja auch kein Wunder, wenn man den ganzen Tag nur rumliegt und einen kein Mensch besuchen kommt. Wir tun ja, was wir können. Machen Spielabende, lesen vor und zeigen auch öfter mal Filme. Aber alles können wir auch nicht auffangen. Liebende Verwandte können wir nicht ersetzen.«
    »Pling«, sagte der Aufzug, und sie betraten einen Flur, der dem im Erdgeschoss genau glich. Weiße Wände, Landschaftsbilder und hier und da ein weiser Spruch.   Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, in denen wir lieben.
    Aha, dachte Charlotte, das hatte der alte Wilhelm Busch also gesagt. Erstaunlich, sie kannte von diesem Dichter, der ja wohl auch in Hannover studiert hatte, nur die Geschichten von Max und Moritz. Dabei hatte er offensichtlich noch ganz andere Dinge zu sagen. Sie fragte sich aber schon, wie ein Wilhelm Busch das mit dem Lieben genau gemeint hatte.
    »Aber sie hat durchaus auch gute Tage«, unterbrach Schwester Luise Charlottes Gedanken und schritt zügig voran. »Da kann man ganz vernünftig mit ihr reden.«
    Sie klopfte an eine Tür und betrat ein geräumiges Zweibettzimmer. Das eine Bett war leer, in dem anderen lag eine winzige Frau, die reglos auf einen Fernseher starrte, der an der Wand hing. Es lief eine Dokusoap. Jedenfalls sah es für Charlotte so aus. Der Ton war ausgeschaltet. Auf dem Tisch neben dem Bett stand ein unangetastetes Tablett.
    »Sehen Sie«, sagte Schwester Luise, »Marina, unsere Praktikantin, ist wohl noch im Nebenzimmer am Füttern. Vielleicht haben Sie ja Lust, sich nützlich zu machen?«
    Sie drückte auf irgendeinen Knopf am Bett und fuhr das Kopfende hoch. Frau Dreyer lächelte, was Charlotte erleichterte. Wenigstens nahm die Frau noch etwas von ihrer Umwelt wahr. Ob sie hier etwas Nützliches erfahren würden, war allerdings mehr als fraglich.
    »Frau Dreyer«, sagte Schwester Luise. Sie sprach nicht besonders laut. Schwerhörig war die alte Dame wohl nicht. »Hier sind zwei Leute, die gern mit Ihnen über Ihre Enkelin reden wollen.«
    Frau Dreyer guckte zuerst Charlotte neugierig und dann Hohstedt ängstlich an.
    »Äh«, Charlotte wusste nicht recht, wie sie anfangen sollte, »Frau Dreyer, wann haben Sie denn Janina zuletzt gesehen?«
    Die alte Frau blickte hilfesuchend zu Schwester Luise. »Janina?«
    »Ja«, sagte die, »Janina, die Tochter Ihrer Tochter. Erinnern Sie sich?«
    Frau Dreyers Augen verdunkelten sich. »Sonja. Meine Sonja.« Sie hob ihre kleine arthritische Hand und drohte damit. »Sonja ist tot. Und er hat sie umgebracht«, krächzte sie.
    »Wer hat sie umgebracht?«, fragte Charlotte.
    »Er«, hauchte die alte Frau. Dann fiel ihr Blick auf den Teller mit den belegten Broten. Schwester Luise hatte sie in kleine Häppchen geschnitten und steckte Frau Dreyer eins davon in den Mund. Die begann vorsichtig und selbstvergessen zu kauen.
    Charlotte legte ihre Hand auf Frau Dreyers Arm. »Wer hat ihre Tochter umgebracht?«
    »Sie müssen das nicht so wörtlich nehmen«, flüsterte Schwester Luise. »Das sagt sie öfter. Aber Ihre Tochter hat sich umgebracht, steht in der Akte.«
    Frau Dreyer schluckte und wies mit ihrer knorrigen Hand auf den Teller. Charlotte übernahm

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