Die Tote
lassen.«
»Ich lass ihn nicht allein, umgekehrt passt der Schuh«, murmelte Charlotte. »Und uns wachsen die ungelösten Fälle langsam über den Kopf. Da ist Wochenenddienst angesagt«, fügte sie hinzu und fragte sich im selben Moment, wieso sie sich eigentlich rechtfertigte.
»Also, der Mann wurde zweifellos ermordet und dann ins Wasser geworfen. Möglicherweise hat man ihm eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt. Gestorben ist er in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, wahrscheinlich vor Mitternacht. Außer den Hämatomen am Oberarm, wo man ihn wahrscheinlich festgehalten hat, habe ich keine Verletzungen festgestellt, außer …«
Wedel zögerte, weil Sophie in diesem Moment mit einem vollen Tablett auftauchte und ihre Bestellungen auf dem Tisch verteilte.
»Kann ich dann gleich kassieren? Hab eigentlich schon Feierabend.« Wedel legte zwei Zwanziger auf den Tisch.
»Stimmt so«, schmunzelte er. »Bis gleich.« Und mit einem Blick auf Charlotte fügte er hinzu: »Wir fahren nämlich heute noch shoppen, meine Enkelin und ich.«
Dann zog er den Teller mit dem Apfelkuchen, den ein Berg Schlagsahne zierte, zu sich heran und schob sich genussvoll den ersten Bissen in den Mund.
Charlotte fragte sich, wieso sie keinen Opa hatte, der so erpicht darauf war, sein Geld unter die Leute zu bringen. Aber ihre Großeltern waren leider schon tot und wohl auch nicht annähernd so wohlhabend gewesen wie ihr Gegenüber. Sie nahm das Teesieb aus ihrer Tasse, warf zwei Stückchen Kandis hinein, der ein wohliges Knistern von sich gab, und goss Sahne dazu.
»Was noch?«, kam sie auf die Obduktion zurück, während sie gemächlich den Tee umrührte.
Wedel schluckte und leckte sich Sahne von den Lippen. »Na ja, Ihr Toter hatte wohl einen etwas … sagen wir rauen Geschmack, was Sexualpraktiken angeht.«
Charlotte hörte auf zu rühren. »Was meinen Sie?«
»Seine Sitzfläche sah aus, als hätte ihm erst kürzlich jemand ordentlich den Hintern versohlt.«
»Sie meinen …«, Charlotte senkte die Stimme, »er war masochistisch veranlagt?«
»Genau.« Wedel schob sich den letzten Bissen von seinem Apfelkuchen in den Mund und spülte mit Tee nach.
Charlotte trank ebenfalls einen Schluck. Sie trank selten Tee, zog eigentlich Kaffee vor, aber der hier schmeckte erstaunlich gut.
Masochismus war nicht strafbar. Wenn sich einer gern verhauen ließ, sollte er doch. Anders sah es aus, wenn einer zur Abwechslung auch gern mal andere quälte und die nicht nach ihrer Meinung fragte, was nicht selten vorkam.
»Könnte auch Sadismus im Spiel gewesen sein?«, flüsterte sie. Trotzdem drehte sich eine junge Frau am Nebentisch nach ihr um.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Wedel, »das hinterlässt selten Spuren, und ins Gehirn gucken kann ich den Typen nun mal nicht.«
Er stand auf, weil seine Enkelin, jetzt mit offenen Haaren und mit Handtäschchen, an den Tisch gekommen war.
»Schönes Wochenende noch.« Er zwinkerte ihr zu und ging.
»Danke für den Tee!«, rief Charlotte ihm nach, er winkte ab.
Charlotte blieb allein zurück. Sie trank ihren Tee und beobachtete die Passanten. Sie hatte das Gefühl, dass die Menschheit nur noch paarweise unterwegs war. Teenager, junge Ehepaare mit kleinen Kindern, ältere Ehepaare mit älteren Kindern, Rentnerehepaare ohne Kinder. Wo waren all die glücklichen, dynamischen, unabhängigen Singles, von denen in Büchern immer die Rede war?
Charlotte sah keine. Aber es gab sie. Ganz bestimmt!
Charlotte stand vor einem Dönerimbiss am Steintor, Hannovers Kiez. Von hier aus hatte Rüdiger das letzte Mal mit ihr Kontakt aufgenommen, als er noch in Hannover war. Nebenan gab es eine Kneipe und auf der anderen Seite eine Bar. Auf einem großen Plakat warb eine spärlich bekleidete Blondine in Stilettos um Gäste.
Der Imbiss sah einladend aus. Eine breite Fensterfront ermöglichte den Blick auf den Drehspieß und eine gut sortierte Salattheke. Man konnte dem Koch zusehen, wie er in Windeseile Fleisch, Zwiebeln, Salat und eine helle Soße, deren Knoblaucharoma man bis auf die Straße roch, in Brottaschen schichtete, die er dann den Kunden mit einer Serviette in die Hand drückte. Alles sah ziemlich appetitlich und professionell aus, und der Imbiss war dementsprechend gut besucht.
Charlotte fragte sich allerdings, wieso Rüdiger zum Steintor fuhr, um Döner zu essen. Den bekam man auch in der List. Er könnte auch von der Bar aus angerufen haben oder von der Kneipe direkt nebenan. Die Signale
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