Die Tote
Was natürlich nicht stimmte. Sie hatte Zeit. Was ihr fehlte, war die Kraft, es in Worte zu fassen. Zu sagen, dass der Mann, den sie liebte, sich davongemacht hatte, ohne sich zu erklären.
Das tat weh, und Charlotte tat sich gründlich leid. Einmal war sie aufgestanden und hatte an Jans Tür geklopft. Er hatte zwei Minuten gebraucht, um aus dem Koma zu erwachen, in das Jugendliche am Wochenende von vier Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags versanken. Dann hatte er widerwillig sein Handy kontrolliert, etwas gemurmelt, das sich wie »nein, war nix«, anhörte, und war wieder in seine Kissen gesunken.
Charlotte war wieder ins Wohnzimmer zurückgewatschelt, hatte sich in ihre Decke eingerollt und nachgedacht. War Rüdiger anders gewesen in den letzten Wochen? Hatte sie etwas übersehen? Hatte er etwas gesagt? Hatte sie etwas überhört? Gab es irgendwelche Hinweise, die sie hätten misstrauisch machen müssen? Sosehr sie auch nachdachte, ihr fiel nichts ein. Rüdiger war wie immer gewesen. Und jetzt war er auf und davon. Charlotte hatte ein bisschen geheult. Nur ein bisschen. Mehr hatte der Kerl einfach nicht verdient.
Dann war sie eingeschlafen, und als sie eine gute Stunde später wieder aufwachte, lichtete sich langsam der Nebel, und sie konnte wieder klarer denken. Das war alles so seltsam. Es fühlte sich an wie eine Geschichte, die ihr nicht wirklich widerfuhr. Das passte doch alles nicht zusammen. Das war doch nicht Rüdiger, der da einfach verschwand, ohne ihr ein Wort zu sagen.
Was wusste sie denn eigentlich? Dass er sich aus diesem Dönerimbiss bei ihr gemeldet hatte. Und den Imbiss dann mit einer Frau verlassen hatte. Aber was bedeutete das schon? Gar nichts. Immerhin hatte er an dem Abend zweimal versucht, sie zu erreichen, und dann musste er nach Köln gefahren sein. Aber was hatte er dort zu suchen? Gab es da irgendeinen Zusammenhang mit ihrem Fall?
Sie stand auf und wanderte im Wohnzimmer auf und ab. Sie war zu sehr mit den Problemen ihrer Eltern beschäftigt gewesen, hatte die Denkmuster ihrer Mutter übernommen. Wenn Rüdiger sich weder bei ihr, Charlotte, und auch nicht bei seinem Sohn meldete, dann gab es einen guten Grund dafür. Er war kein Feigling, und er würde sich auch nicht wie einer benehmen und einfach abhauen, ohne ein Wort zu sagen. Das passte nicht zu ihm. Sie blieb stehen, kramte ihr Handy aus den Kissen. Immer noch nichts.
Da stimmte etwas nicht, und es war an der Zeit, dass sie sich aufraffte und herausfand, was es war. Dazu gehörte, dass sie auf der Stelle eine Vermisstenanzeige aufgab. Die Kollegen würden zwar vielsagend gucken und sich zieren, aber sie würde sie schon überzeugen. Die Kollegen in Köln mussten informiert werden, am liebsten würde sie selbst sofort hinfahren.
Sie ging in die Küche, bat ihre Mutter, ihr einen starken Kaffee zu kochen, was diese – dankbar, endlich etwas tun zu können, das ihre Tochter aufmunterte – sofort in Angriff nahm. Zwanzig Minuten später stand Charlotte am Küchentisch, schob sich ein Stück trockenen Streuselkuchen in den Mund, stürzte ihren Kaffee hinunter und verließ die Wohnung, nicht ohne ihrer Mutter aufzutragen, nur ja das Telefon nicht allein zu lassen.
Der Beamte vom Kriminaldauerdienst, der ihre Anzeige aufnahm, grinste anzüglich, aber daran würde sich Charlotte gewöhnen müssen, denn es war die KFI 1 , ihre Abteilung, die sich mit dem Fall beschäftigen würde, und die Kollegen waren ihr gegenüber voreingenommen. Und sie selbst wusste ja, dass sie in dem Ruf stand, überall Verbrechen zu vermuten und alle Menschen für Schurken zu halten. Allerdings stand sie ebenfalls in dem Ruf, in den meisten Fällen den richtigen Riecher gehabt zu haben, der schon so manches Verbrechen verhindert hatte.
Nachdem sie die Vermisstenanzeige unterschrieben hatte, ging sie direkt in Bergheims Büro und setzte sich an seinen Computer, gab sein Passwort ein und klickte sich durch die Dokumente, die er zuletzt aufgerufen hatte. Anscheinend hatte er sich sämtliche Befragungsprotokolle zum Fall Janina Heimann durchgesehen. Außerdem hatte er mit Kramer noch die Aussage dieses Penners aufgenommen.
Sie rief bei Kramer zu Hause an. Er war nicht ganz nüchtern und unangemessen gut gelaunt, fand Charlotte.
»Meine Frau hat Geburtstag, wollt ihr nicht vorbeikommen? Wir grillen, und es gibt noch jede Menge Salat …«
»Nein«, unterbrach ihn Charlotte unwirsch, »Rüdiger ist verschwunden. Ich mach mir Sorgen. Was war das mit
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