Die Tote
bist ein Schatz«, sagte sie, nahm den Becher und seufzte. »Wenn ihr beiden euch doch bloß wieder vertragen würdet. Das mit Rüdiger ist schon schlimm genug. Sprich doch mal mit Papa. Ich glaube, du irrst dich.« Ihre Mutter antwortete nicht, wischte nur mit dem Spültuch über den Tisch. Charlotte leerte ihre Tasse. »Sag Jan noch nichts, bitte. Er hat heute seine letzte Abi-Prüfung. Ich rede heute Nachmittag mit ihm.«
Frau Wiegand streichelte ihrer Tochter über die Wange. »Glaubst du denn wirklich, dass er nicht freiwillig … verschwunden ist? Ich meine, wer sollte denn … er ist immerhin Polizist.«
»Ja, ich bin mir sicher«, erwiderte Charlotte ein bisschen ärgerlich. Ihre Mutter hielt sie also auch für paranoid. »Es gibt genügend Verrückte da draußen, und die meisten von denen haben keinen Respekt vor Polizisten. Das kannst du mir glauben.« Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Sprich mit Papa«, empfahl sie und beeilte sich zur Direktion zu kommen.
Es war noch nicht mal halb acht, als sie bereits ruhelos durch die Flure der KFI 1 lief. Rüdigers Auto war bisher nicht gefunden worden. Weder in Hannover noch in Köln. Von dort hatte sie die letzte Nachricht von ihm bekommen. Seitdem keine mehr, was ihre Kollegen nun doch etwas stutzig machte, denn er hätte heute wieder zum Dienst erscheinen sollen. Sie waren schwach besetzt und hatten jede Menge zu tun. Stefan Schliemann würde ihnen einstweilen erhalten bleiben, und Wulf, wie Schliemann von der KFI 2 , würde ihnen ebenfalls zugeteilt. So viel wusste Charlotte bereits, denn sie hatte sich die Frechheit erlaubt, Ostermann gestern Abend noch anzurufen und ihn davon zu überzeugen, dass Bergheim nicht freiwillig von der Bildfläche verschwand. Dann waren wie immer Hohstedt, Maren Vogt, Leo Kramer und Bremer dabei.
Pünktlich um halb acht trat Huber seinen Dienst an. Er war beim Erkennungsdienst und stand kurz vor der Pensionierung. Dementsprechend enthusiastisch schloss er seinen Schreibtisch auf und ließ sich auf seinen Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht beängstigend knarrte. Er hatte Charlotte auch nichts zu erzählen, was sie nicht schon wusste.
Er und Rüdiger waren sich ja nur kurz auf dem Flur begegnet, und Rüdiger hatte sich nach seiner Hüftoperation vor zwei Jahren erkundigt. Leider habe Huber ihm bezüglich seines Fußes keinen Mut machen können, denn solche Verletzungen am Knochengerüst seien äußerst langwierig und – ganz im Vertrauen – hatte er zu Charlotte gesagt, er habe sich nie richtig von diesem Bruch erholt. Charlotte war kurz davor, Huber anzuschreien, riss sich aber zusammen. Des Weiteren habe der Kollege Bergheim nur noch gesagt, dass er später noch zum Steintor wollte. Was er dort zu tun hatte, das hatte er ihm nicht verraten. Aber warum man denn den Kollegen nicht selber frage? Sei ihm etwa etwas zugestoßen?
»Ja, er ist verschwunden«, hatte Charlotte Huber dann doch angeschrien, was der mit einem hektischen Griff ans Herz quittiert hatte, woraufhin Charlotte gegangen war. Sie hatte sich Kaffee besorgt und war in den Besprechungsraum gegangen, wo sie ungeduldig die Ankunft der anderen erwartete.
Nach und nach trudelten sie ein. Zuerst Maren, die sich gleich neben Charlotte setzte und ihre Hand ergriff. Charlotte hätte beinahe angefangen zu heulen, schluckte aber die aufkommenden Tränen hinunter. Wenn sie hier eine Schwäche zeigte, würde Ostermann sie sofort beurlauben, und das wollte sie auf keinen Fall.
Ostermann kam als Letzter und setzte sich wortlos an den Tisch. Die Stimmung war, wie nicht anders zu erwarten, schlecht. Die Suche nach Rüdiger Bergheim war angelaufen, aber bis jetzt gab es keine Spur. Man hatte ihn über Rundfunk suchen lassen, sein Bild online gestellt und versucht, sein Handy zu orten. Jetzt konnten sie nicht viel mehr tun, als auf Hinweise zu warten. Hier und da trafen Charlotte mitleidige Blicke, was sie nervös machte. Sie wollte kein Mitleid, sie wollte Hoffnung, denn Rüdiger war am Leben. Daran musste sie glauben, und daran sollten auch die anderen glauben.
Ostermann erteilte Charlotte das Wort. Sie räusperte sich.
»Also, Rüdiger hat sich … bevor er verschwand …«, hier fing ihre Stimme an zu zittern. Sie biss sich auf die Lippen, »… bevor er verschwand, eingehend mit den Vernehmungsprotokollen um den Tod von Janina Heimann beschäftigt. Danach hat er sich am Freitagabend am Steintor mit einer Frau getroffen …«,
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