Die Tote
einer gut aussehenden Frau unterhielt, und der sie dann einfach mit Küssen zum Schweigen brachte. Ihren Hausgenossen, der sich mit durchschaubaren Manövern aus der Affäre zog, wenn es darum ging, den Spülautomaten auszuräumen oder die Wäsche zusammenzulegen.
Sie sah ihn vor sich, wie er an warmen Tagen in seinen karierten Boxershorts auf den Balkon trat, den Kaffeebecher in den leeren Blumenkästen abstellte und über die Brennnesseln im Hinterhof meckerte, weil es ja sonst einfach nichts zu meckern gab. Ihren Kollegen, der kein Problem damit hatte, dass seine Freundin auch seine Vorgesetzte war, und der gelassen ihre Temperamentsausbrücke aussaß. Ihren Geliebten, mit dem sie eine Matratze und eine Bettdecke teilte, der sie liebte und sie beschützte wie ein hilfloses Kind, wenn sie sich wie ein hilfloses Kind fühlte. Den Mann, den ihre Eltern achteten, dessen Sohn ihn brauchte und den sie brauchte – mehr als sie sich je klargemacht hatte. Wenn dieser Mann für immer aus ihrem Leben verschwunden sein sollte, wie sollte sie dann weitermachen?
Jetzt. Jetzt musste er fallen, dieser Vorhang, der sie normalerweise davor bewahrte, zu sehr in Vorstellungen einzutauchen, die sie nicht ertragen konnte, sie davor schützte, einfach durchzudrehen, wenn ihr Gehirn Dinge zu Ende dachte, die es nicht zu Ende denken sollte. Aber der Vorhang fiel nicht. Sie legte den Kopf in die Hände und wollte weinen.
»Charlotte?« Kramer stand in der Tür und sah sie besorgt an. »Ich hab geklopft, aber …«
»Schon gut«, sagte Charlotte, die sich über die Festigkeit in ihrer Stimme wunderte. War sie nicht vor einer Sekunde noch dabei gewesen, den Boden unter den Füßen zu verlieren? Das durfte ihr nicht noch einmal passieren. Sie reckte die Schultern.
»Was gibt’s denn?«, blaffte sie unfreundlicher, als es gemeint war, aber Kramer ließ sich nicht beeindrucken.
»Geht’s dir gut? Soll ich dir einen Kaffee holen?«
»Nein, ist schon okay«, erwiderte sie milder. »Hast du was gefunden?«
»Kann man wohl sagen. Unser Herr Drillich hat sich ausgesprochen gern auf bestimmten Pornoseiten herumgetrieben. Wir sind da auf ein Foto gestoßen, das du dir unbedingt ansehen solltest.«
Charlotte folgte Kramer zu seinem Schreibtisch in der Technik.
Kramer klickte durch mehrere Bilder, auf denen der Ermordete mal in Handschellen, mal auf Knien mit Halsband zu sehen war, das von einer Dirndlträgerin mit üppigem Vorbau gehalten wurde.
»Hier«, sagte Kramer, als Charlotte sich ein Bild von den Vorlieben des Ermordeten gemacht hatte, »das hier ist der Knüller.«
Charlotte schaute sich das Foto an und nickte dann langsam. »Meine Güte, wirklich ein Knüller. Gut gemacht, Leute«, murmelte sie.
Das Foto zeigte Janina Heimann hinter einer Bar, und neben ihr stand ein Mann. Er hielt seinen Kopf leicht gesenkt, trotzdem hatte Charlotte das Gefühl, ihn zu kennen. Woher?
»Kannst du das Gesicht vergrößern?«, fragte sie.
»Kein Problem«, sagte Kramer, »wird nur ein bisschen undeutlicher.« Das Gesicht auf dem Bildschirm kam näher, wurde unscharf. Charlotte ging zwei Schritte zurück und starrte auf den Bildschirm. Jetzt wusste sie, woher sie den Mann kannte.
»Druck mir das aus«, kommandierte sie, und rannte in ihr Büro. Wenig später knallte sie Hohstedt einen Zettel auf den Tisch. »Bring mir den her, und zwar sofort. Ich bin in meinem Büro und warte.«
Hohstedt war vor Schreck zusammengezuckt, nahm aber den Zettel und las. »Soll ich den vorläufig festnehmen, oder was?«
»Mir egal, nur bring ihn her.« Dann ging sie zu Bremer. »Haben wir die Telefonliste und das Bewegungsprofil von dem Drillich?«
Bremer erhob sich wortlos und kam Sekunden später mit einem Fax zurück. »Also nach dieser Liste hat er den letzten Anruf am frühen Donnerstagabend von zu Hause aus getätigt.
»Von seinem Handy?«
»Ja.«
»Wen hat er angerufen?«
»Pizzaservice.«
»Was ist mit dem Haustelefon?«
»Da ist Maren dran.«
Charlotte ging zu Marens Schreibtisch, die gerade den Telefonhörer auflegte.
»Gibt’s was Interessantes?«
»Nee, alles ganz gewöhnlich. Das Haustelefon hat wohl hauptsächlich die Mutter benutzt. Arzt, eine Krankenschwester vom Pflegedienst, die Apotheke und noch eine Frau Wübbeke, das ist eine Freundin der Mutter. Die Nummern wiederholen sich, immer wieder. Anrufe gab’s dann noch von der Sparkasse, der AOK und einem Physiotherapeuten, der regelmäßig zu Frau Drillich ins Haus kommt. Sieht
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