Die Tote
Sie jemanden an der Tür hören, kommen Sie sofort zu mir! Verstanden?«
Das Mädchen blickte ihn an und nickte dann. Bergheim lächelte sie an, ging in die Waschküche und bestieg erneut die Waschmaschine. Das Fensterloch war etwas weniger als einen Meter breit und führte in einen Schacht von vielleicht einem halben Meter Höhe. Außer den Baumwipfeln konnte er nichts erkennen. Er hämmerte mit dem Stein auf den Putz ein. Das Ergebnis war nicht vielversprechend, der Putz bröckelte nur spärlich, aber er hatte ja sowieso nichts Besseres zu tun, also konnte er genauso gut Steine klopfen.
* * *
Charlotte war mit Bremer zu Drillichs Arbeitgeber gefahren, einem Callcenter in der Marienstraße, das Lebensversicherungen verkaufte. In einem gemütlichen Büro unter dem Dach saßen sie Frau Nordmann gegenüber.
»Wie die Tanne«, hatte sie gesagt, als sie sich den beiden Beamten vorgestellt hatte. Und dass Herr Drillich tot war, war einfach unfassbar. Und dann auch noch ermordet. Er war doch so zurückhaltend und unauffällig gewesen. »Aber …«, sie tippte sich an die Stirn, nachdem sie ihren Besuch gebeten hatte, Platz zu nehmen, »man guckt den Leuten wirklich nur vor den Kopf, nicht wahr?«
Frau Nordmann, eine füllige, nicht mehr ganz junge Frau mit praktischer Kurzhaarfrisur, bot ihnen Kaffee an, den sowohl Charlotte als auch Bremer ablehnten. Sie waren nicht in Stimmung, es sich gemütlich zu machen.
»Frau Nordmann«, begann Charlotte, »können Sie uns etwas über Herrn Drillich erzählen? Was war er für ein Mensch? War er bei den Kollegen beliebt? Hatte er Freunde?«
Frau Nordmann kicherte ein bisschen. »Also, wenn ich ehrlich sein soll, dann kann ich über Herrn Drillich gar nichts sagen. Er arbeitet … hat … schon seit Jahren bei uns gearbeitet. Und es gab nie Beschwerden. Er war zuverlässig und selten krank. Ob er sich mit jemandem besonders gut verstanden hat … also, das weiß ich nicht, da müssten Sie die Kollegen fragen.«
»Was hatten Sie für einen Eindruck von ihm?«, fragte Charlotte.
Frau Nordmann verzog den Mund. »Wollen Sie jetzt wissen, ob ich ihn mochte, oder was?«
»Zum Beispiel.«
»Na ja … also, wenn ich ehrlich sein soll. Ich mochte ihn nicht besonders. Ich fand ihn ein bisschen … wie soll ich sagen … unergründlich. Ist auch nie mitgegangen, wenn wir unseren jährlichen Betriebsausflug gemacht haben. Wir fahren immer in den Harz, wandern. Aber der Drillich ist nie mitgegangen, war ein ziemlicher Einzelgänger, wenn Sie mich fragen. Und er war ja auch lange arbeitslos gewesen, bevor er hier angefangen hat. Mein Vorgänger hat ihn eingestellt. Aber der ist ja vor ein paar Jahren in Frührente gegangen. Schlaganfall, mit achtundvierzig! Das müssen Sie sich mal vorstellen! Konnte danach nicht mehr richtig sprechen. Ob’s ihm jetzt besser geht?« Frau Nordmann hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
Charlotte erhob sich. »Danke, Frau Nordmann. Könnten wir jetzt noch mit Ihren Mitarbeitern sprechen?«
»Natürlich, aber … ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich kurz fassen.«
»Versteht sich«, sagte Charlotte knapp.
Wie sich herausstellte, konnten auch Drillichs Kollegen nicht viel über ihn sagen. Befreundet war er mit keinem gewesen, und was er privat gemacht hatte, darüber hatte er nie gesprochen. Man wusste nur, dass er bei seiner Mutter wohnte, was ja wohl ziemlich ungewöhnlich war für einen Mann in dem Alter.
Nach einer knappen Stunde fuhren die beiden Kriminaler unzufrieden wieder zur KFI , wo Charlotte sich in ihr Büro verkroch, sich an ihren Schreibtisch setzte und vor sich hin starrte. Es war einfach nicht möglich, diesen dumpfen Schmerz in der Magengegend zu ignorieren oder gar auszuschalten. Immer wieder tauchte dieselbe Frage auf. Lebte Rüdiger noch? Oder trieb er bereits leblos im Rhein oder sonst einem Kölner Gewässer? Und wenn er noch lebte, wo war er dann? Wie ging es ihm? Und wie sollte sie ihn finden? Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie ein Leben ohne Rüdiger aussehen würde. Hatte sich nie klargemacht, dass ihre Beziehung ein Geschenk war. Oder eher eine Leihgabe? Ein Geschenk wurde einem nicht wieder weggenommen. Was, wenn jemand – wer auch immer – ihr jetzt Rüdiger wegnahm? Ihren Freund, mit dem sie am Wochenende, wenn ihr Beruf es zuließ, ausgiebig frühstücken konnte, der ebenso wie sie eine Vorliebe für deftiges Essen hatte. Den sie necken konnte, wenn er sich für ihren Geschmack zu lange mit
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