Die Tote
Raum verließ.
»Wann waren Sie zuletzt in der ›Leinelust‹?«
»Also, lassen Sie mich mal überlegen.« Weinlaub schlug gemächlich die Beine übereinander, seine Arroganz hatte wieder die Oberhand. »Am letzten Wochenende. Dann bin ich öfter da.«
»Am Freitagabend auch?«
»Könnte schon sein.«
Die Tür öffnete sich, und der Uniformierte legte Charlotte das Foto von Bergheim auf den Tisch.
»Haben Sie zufällig diesen Mann in dieser Bar gesehen?« Sie reichte Weinlaub das Bild, ohne einen Blick darauf zu werfen.
Der sah es sich an, und Charlotte wartete gespannt. Sie hätte schwören können, dass ein leichtes Lächeln um Weinlaubs Lippen spielte, als er sich das Foto ansah.
»Nein«, sagte er, »den hab ich da nicht gesehen. Weinlaub legte das Bild zurück und sah erneut auf die Uhr. »Kann ich jetzt gehen?«
Bevor Charlotte antworten konnte, betrat Hohstedt den Raum und nickte ihr zu. Weinlaubs Schwester hatte sein Alibi bestätigt. Charlotte hatte nichts anderes erwartet.
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Weinlaubs Anwalt trat ein.
»Na wunderbar«, sagte Charlotte, »Sie kommen gerade recht. Können Ihren Mandanten gleich wieder mitnehmen.«
Der Anwalt guckte ungläubig von Weinlaub zu Charlotte.
»Deswegen hab ich jetzt eine wichtige Sitzung unterbrochen«, murrte er vorwurfsvoll in Weinlaubs Richtung.
»Tatsächlich?«, schnaubte der. »Unterbrochen. Wieso haben Sie dann so lange gebraucht vom Waterlooplatz bis hierher? Sind wohl auf den Händen hergestürmt?«
Charlotte hätte beinahe gelacht.
* * *
Bergheim ließ sich erschöpft auf eine der Saunabänke fallen. Seine Hände waren blutig, und seine Arme schmerzten. Steine klopfen war nicht wirklich seine Lieblingsbeschäftigung. Überdies tat ihm der Kopf weh, weil er ständig darüber nachdachte, wie er hierhergekommen war. Er hatte eine Frage stellen wollen, konnte sich aber nicht mehr erinnern, welche, und auch nicht, wem er sie hatte stellen wollen. Er dachte an Charlotte und an seinen Sohn Jan. Sie mussten sich schrecklich sorgen. Immer, wenn er an die beiden dachte, wollte er sofort wieder mit der Arbeit fortfahren, aber seine Kraft war für den Moment erschöpft. Er musste sich ausruhen. Außerdem musste er sich eingestehen, dass er wenig Hoffnung hatte, was seine Steineklopferei anbelangte.
Wenn es in diesem Tempo weiterging, würde er noch Tage brauchen, bis er das Gitter freigelegt hatte. Bisher hatte er das Ding nicht mal lockern können. Und die junge Frau war keine Hilfe. Sie nagte an ihren Fingernägeln, so heftig, dass Blut floss. Er hatte versucht, sie daran zu hindern, aber sie wäre beinahe hysterisch geworden, also hatte er sie in Ruhe gelassen. In dem Obstkeller, wie Bergheim den Raum mit den Äpfeln nannte, hatte er eine alte Truhe gefunden, in der Laken und Handtücher lagen. Er hatte alles herausgenommen und in der Sauna für sie beide so was wie zwei Nachtlager hergerichtet. Das Mädchen hatte ihn stumm beobachtet, sich aber nicht vom Fleck gerührt. Sie tat eigentlich nichts anderes, als stumm in ihrer Ecke hinter dem Ofen zu kauern wie ein verwundetes Reh. Nur einmal war sie zögernd in den Waschkeller gekommen und hatte ihm beim Steineklopfen zugesehen.
Bergheim fragte sich, wieso sich niemand blicken ließ. Irgendwer hielt sie beide aus irgendeinem Grund hier gefangen. Warum? Jemand musste sich bedroht fühlen. Oder dienten sie beide als Geiseln? Wem? Er musste nachdenken. Irgendwie mussten sie hier rauskommen, denn wer immer sie hierherverfrachtet hatte, hatte vielleicht nicht die Absicht, sie je wieder hinauszulassen. Man hatte sie hier weggesperrt, ihnen Wasser und Nahrung für eine bestimmte Zeit dagelassen. Das wiederum ließ hoffen. Vielleicht ging nach dieser Zeit keine Gefahr mehr von ihnen aus.
Wieder kam ihm Charlotte in den Sinn und Jan. Er schloss die Augen. Wollte nicht mehr denken. Es war schon ziemlich dunkel geworden, also sollte er schlafen, denn er konnte nur arbeiten, solange er Tageslicht hatte. Merkwürdig. Darüber hatte er sich in seinem bisherigen Leben nie Gedanken gemacht. Dass man vom Tageslicht abhängig sein konnte. Er schlug die Augen wieder auf. Diese Untätigkeit kostete ihn fast mehr Kraft als die körperliche Arbeit. Es musste einen Weg geben, hier rauszukommen. Es gab immer einen Weg, und er musste ihn finden.
* * *
Charlotte ging langsam die Bödekerstraße hinauf Richtung Gretchenstraße. Sie hatte ihr Auto an der Direktion stehen lassen, wollte …
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