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Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion
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musste sich bewegen, sich ablenken. Von Rüdiger gab es weiterhin keine Spur, und sie musste jetzt mit Jan reden. Nur, was sollte sie dem Jungen sagen?
    Er hing sehr an seinem Vater, denn seine Mutter hatte noch eine Tochter bekommen und war vollauf mit ihrer neuen Familie beschäftigt. Nachdem Jan vor etwas mehr als drei Jahren zu seinem Vater gezogen war, hatte sie sich kaum noch um den Jungen gekümmert. Und jetzt, wo Jan seine Pubertät hinter sich gelassen hatte, waren sie zu einer richtigen kleinen Familie geworden. Und das war für Charlotte, die sich immer ein Kind gewünscht hatte, ein nicht vollkommener, aber doch akzeptabler Ersatz dafür, dass sie nicht Mutter geworden war.
    Merkwürdig, sie dachte in der Vergangenheit, wenn es um sie selbst und Mutterschaft ging, das hatte sie bisher noch nie getan. Sie hatte immer gehofft, Rüdiger überreden zu können, aber es war ihr nicht gelungen, weil er der Überzeugung war, dass zwei Karrieretypen sich nicht anständig um ein Kind kümmern konnten. »Ich spreche aus Erfahrung«, das betonte er immer wieder, und vielleicht hatte er ja sogar recht. Jedenfalls hatte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung wohl damit abgefunden. Wahrscheinlich auch deshalb, weil Jan ihr ans Herz gewachsen war. Er war auch ihr Sohn. Sie liebte ihn, und ihre Eltern hatten ihn als Stiefenkel anerkannt und liebten ihn ebenfalls.
    Und nun musste sie diesem Jungen, der gerade seine Abiturprüfungen abgelegt hatte und mit seinen Klassenkameraden eine Reise nach Irland plante, sagen, dass sein Vater verschwunden war. Weitere Informationen hatte sie, seine Lebensgefährtin und erste Hauptkommissarin der Abteilung für Tötungsdelikte und vermisste Personen der Polizeidirektion Hannover, ihm nicht anzubieten, nur die Hoffnung, dass er noch lebte.
    Als sie ihre Wohnung betrat, kam ihre Mutter ihr entgegen, in der Hand hielt sie einen Kochlöffel. »Hat er sich gemeldet?«
    Charlotte schüttelte langsam den Kopf.
    »Kind, was ist denn bloß passiert?«
    »Mama, ich wünschte, ich wüsste es. Ist Jan da?«
    Ihre Mutter nickte, was Charlotte befürchtet hatte. Aber sie hätte es sowieso nicht aufschieben können, denn morgen würde Rüdigers Bild in der Zeitung erscheinen.
    »Ich hab mit deinem Vater gesprochen«, sagte ihre Mutter und drehte den Kochlöffel in ihren Händen. »Wenn es dir recht ist, kommt er her. Du brauchst uns doch jetzt, oder nicht?«
    Charlotte lächelte schwach, legte ihrer Mutter beide Hände auf die Wangen und küsste sie auf die Stirn. »Ja, ich bin froh, dass er kommt.«
    »Das heißt nicht, dass diese … andere Angelegenheit geregelt ist. Nur aufgeschoben …«
    »Natürlich, Mama. Ich geh dann mal mit Jan reden.«
    »Was willst du mit mir bereden?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Jan war unbemerkt aus seinem Zimmer gekommen.
    Charlotte drehte sich erschrocken um. Sie musste den Blick heben, um dem Jungen in die Augen sehen zu können. Er war seinem Vater sehr ähnlich. Groß, blond, mit markanten Gesichtszügen und hellen graublauen Augen. Um die meist etwas spöttisch verzogenen Mundwinkel schimmerte dunkler Bartwuchs. Charlotte biss sich auf die Lippen. Jetzt auf keinen Fall heulen!, rief sie sich zur Ordnung.
    »Komm.« Sie nahm Jans Arm und führte ihn in die Küche. »Setz dich.«
    »Was wird das jetzt?«, fragte der Junge misstrauisch. »Hab ich eine Schramme ins Auto gefahren? Dann muss mir einer reingefahren sein. Ich war’s jedenfalls nicht.«
    »Wenn’s nur das wäre«, sagte Charlotte, »Jan, Rüdiger ist verschwunden. Wir wissen nicht, wo er ist. Die letzte Nachricht von ihm kam Samstagmorgen aus Köln. Sein Auto wurde dort am Hauptbahnhof gefunden und wird kriminaltechnisch untersucht. Wir warten auf Ergebnisse. Von deinem Vater gibt es leider keine Spur.«
    Jan sah sie eine Weile bewegungslos an. »Du meinst … er ist weg und meldet sich nicht, oder was?«
    »So kann man es auch sagen. Es kann aber auch sein, dass er … entführt wurde. Wir können sein Handy nicht orten. Vielleicht funktioniert es ja einfach nur nicht. Allerdings gibt es ja noch andere Möglichkeiten, sich zu melden, was Rüdiger aber nicht getan hat. Ich gehe also davon aus, dass er entweder verletzt ist oder irgendwo festgehalten wird. Allerdings ist er in kein Krankenhaus in und um Köln eingeliefert worden.« Die dritte Möglichkeit erwähnte Charlotte nicht, einerseits weil der Junge von selbst draufkommen würde, andererseits, weil sie sich selbst schützen wollte.
    Jan

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