Die Tote
schwieg und knetete nervös an seinem T-Shirt herum, was Charlotte veranlasste, seine Hände zu nehmen.
»Jan, wir tun alles, was wir können. Die ganze Abteilung will deinen Vater finden und die Kölner Kripo ebenfalls. Aber im Moment können wir nur warten. Wenn die Technik was findet, rufen die mich sofort an.«
Jan sah Charlotte schweigend an und stand auf. »Samstagmorgen? Das war vorgestern. Wieso hast du mir das nicht sofort gesagt?«
»Weil ich mir nicht sicher war, ob er nicht vielleicht einfach nur mal allein sein wollte. Dann hätte ich dich nur beunruhigt. Als mir dann aber klar wurde, dass irgendwas nicht stimmt, das war gestern Abend« – hier schwindelte Charlotte ein bisschen –, »hab ich nachforschen lassen und bin mir jetzt sicher, dass … er nicht freiwillig weg ist.«
»Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, haben wir nicht.«
Charlotte sprang auf und lief ins Badezimmer. Dort klappte sie den Klodeckel runter – wann lernte der Junge endlich, den Klodeckel runterzuklappen? –, setzte sich hin und weinte.
NEUN
Der Wecker klingelte. Sechs Uhr. Dabei war sie um drei Uhr in der Nacht noch wach gewesen. Morgens war es besonders schlimm. Da gab es diesen klitzekleinen Moment nach dem Aufwachen, in dem man unwissend war. In diesem Moment war die Welt noch in Ordnung, aber dann überschwemmte einen die Realität, wie ein Tsunami. Rüdiger war nicht da. Vielleicht würde er nie mehr da sein.
Charlotte quälte sich vom Sofa und ging ins Bad. Ihr Vater war gekommen. Zumindest ihre Eltern schliefen wieder im selben Bett. Sie sah in den Spiegel. Ihre Haare brauchten eine Wäsche und einen neuen Schnitt. Aber wozu? Rüdiger war nicht da. Wie sollte sie das aushalten? Diese Ungewissheit? Wie hielten Eltern das aus, wenn ihre Kinder verschwanden? Sie stellte sich unter die Dusche. Sie durfte nicht nachlassen, niemandem war geholfen, wenn sie sich gehen ließ. Sie musste sich um ihre Fälle kümmern. Musste herausfinden, was mit Janina Heimann geschehen war, dann würde sie auch Rüdiger finden. So oder so.
Als sie die Küche betrat, kam Jan herein. Er trug immer noch seine Jeans und sein T-Shirt. Die Hände in den Taschen vergraben, stand er da und sah Charlotte aus großen umschatteten Augen an. Meine Güte, der Junge sieht auch nicht besser aus als ich, dachte Charlotte, ging zu ihm und nahm ihn fest in die Arme. Er schlang seine Arme um ihre Taille und schluchzte.
»Du findest ihn doch, oder?«
»Verlass dich drauf«, sagte Charlotte.
Dann ließ sie ihn los und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Direktion. Sie war plötzlich furchtbar wütend. Und sie musste irgendwohin, diese Wut. Wer immer ihnen dieses Leid zufügte. Sie würde ihn zertreten wie eine Kakerlake.
Forsch marschierte sie die Lister Meile entlang, über den Weißekreuzplatz, durch den Bahnhof und am Kröpcke vorbei, dann über die Karmarschstraße Richtung Waterlooplatz. Sie brauchte eine gute halbe Stunde bis zur Direktion und war voller Tatendrang, als sie ankam.
Bremer saß schon am Platz, ebenso wie Leo Kramer und Petersen. Sie alle wussten: Je schneller sie den Fall lösten, desto größer war die Chance, Rüdiger zu finden. Charlotte war ihnen dankbar und nahm sich vor, sie alle zu einem großen Essen einzuladen, wenn … Rüdiger wieder da war. An etwas anderes zu denken, verbot sie sich. Als Bremer sie sah, winkte er sie heran.
»Komm, wir haben was!«
»Was gibt’s?«
»Wir haben die Telefonnummern gecheckt, die von Drillichs Handynummer aus angerufen wurden, und diese Nummer haben wir gefunden.« Er wies auf seinen Bildschirm.
Charlotte runzelte einen Moment die Stirn. »Wolfgang Schmattke. War das nicht dieser Loser vom Friedrich-Ebert-Platz?«
»Ob er ein Loser ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall wohnt er am Friedrich-Ebert-Platz. Das ist doch schon mal was.«
»Das kann man sagen. Habt ihr noch andere verdächtige Nummern?«
»Wie man’s nimmt«, antwortete Petersen, »das meiste sind Nummern von gewissen Damen, die gewisse Dienste anbieten.«
»Alle befragen«, sagte Charlotte, »und allen das Foto von Janina zeigen. Und von Rüdiger«, fügte sie nach einigen Sekunden hinzu. »Habt ihr seine Telefonliste überprüft?«
»Ja, keine Besonderheiten in den letzten zwei Wochen.«
Charlotte nickte stumm. Dann rauschte sie aus dem Raum. Bremer hinterher.
In der Wohnung von Mutter Schmattke trafen Charlotte und Bremer wie erwartet auf ein rauchverpestetes Wohnzimmer, in dem es sich Frau
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