Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
klingelte.
«Wer ist da?», erklang es schon nach wenigen Sekunden hinter der Tür.
«Ich bin es. Ursula.»
Sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
«Hallo! Was machst du denn hier?», sagte er, als er die Tür öffnete.
«Hast du Lust, essen zu gehen?»
Er sah auf die Uhr. «Es ist schon Viertel vor elf.»
«Ja, dann wird es eben ein spätes Essen.»
Er blickte sie an. Sie begriff, dass er nicht ganz dahinterkam, was sie eigentlich bei ihm wollte. Natürlich war es zu spät, um jetzt noch essen zu gehen. Wollte sie, dass er ihr Gesellschaft leistete? Daran hatte sie noch vor kurzem ganz offensichtlich keinerlei Interesse gehabt. Sie sah ihm an, dass er wirklich nicht damit gerechnet hatte, dass sie auftauchen würde, aber jetzt war sie hier, und er schien sich trotz allem tatsächlich über ihren Besuch zu freuen.
«Ich wundere mich nur ein bisschen darüber, dass du hier auftauchst», erklärte er und bestätigte, was sie gerade gedacht hatte.
«Das kann ich gut verstehen. Ich wundere mich ja selbst ein bisschen darüber», antwortete sie ehrlich.
«Willst du denn ausgehen, oder soll ich uns was Kleines kochen?»
«Also, wenn du willst, kannst du uns was Kleines kochen», meinte sie und betrat die Wohnung. Mit einem leicht amüsierten Blick schloss Sebastian die Tür hinter ihr.
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S ie kamen am frühen Morgen. Memel führte die Delegation der schweigenden Männer an, die mit dem Recht der Älteren in ihren Flur und ihr Leben traten. Mehran kannte jeden der fünf Männer, die jetzt dort standen und ihn und seine Mutter anstarrten. Shibeka wirkte beinahe schockiert, aber Memel richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Mehran. Streng und unnachgiebig. Der wache, fast jugendliche Blick, den Mehran an dem alten Mann immer so gemocht hatte, war verschwunden. Der Blick, der dem Alten Charme und Freundlichkeit verliehen hatte. Jetzt sah er einfach nur schroff und verärgert aus, als betrachtete er ein stinkendes Subjekt.
«Wir müssen mit euch reden», sagte er. «Habt ihr kurz Zeit?»
Eigentlich war es keine Frage. Es gab keine Möglichkeit, nein zu sagen. Mehran war sonnenklar, was passiert war. Melika hatte gepetzt. Anscheinend unmittelbar nachdem sie gestern von hier weggegangen war. Das ärgerte Mehran ungemein. Nicht genug damit, dass Melika vor ihnen etwas zu verheimlichen schien, sie zog auch noch andere mit hinein.
«Aber natürlich», antwortete der Junge freundlich und führte Memel mit dem von ihm erwarteten Respekt in das Wohnzimmer, wo Eyer gerade fernsah. Mehran schaltete hastig den Apparat aus und bat Eyer, der noch immer seinen Schlafanzug trug, in sein Zimmer zu gehen. Eyer sprang auf, seine morgendliche Müdigkeit war sofort verflogen, als er mit großen Augen an den Männern vorbei barfuß in sein Zimmer ging. Immerhin war er schlau genug, jedem Einzelnen von ihnen dabei respektvoll zuzunicken, und das machte Mehran froh. Es war schön zu sehen, dass sein Bruder sich zu benehmen wusste, wenn es darauf ankam. Er wandte sich Shibeka zu, die im Flur stehen geblieben war, und bat sie, den Gästen etwas zu trinken und zu essen zu bringen, doch Memel schüttelte den Kopf und lehnte ab. Sie waren keinesfalls zum Frühstück gekommen.
Die Männer ließen sich auf dem Sofa nieder. Memel setzte sich vor die anderen in einen Sessel, um für die Gruppe zu sprechen. Mehran setzte sich den Männern direkt gegenüber und wartete auf Shibeka. Obwohl er ein nervöses Kribbeln in der Magengegend verspürte, war er auch zufrieden. Denn jetzt wandte sich Mehran an ihn, er war derjenige, der für seine Familie sprechen durfte. Früher war er genau wie sein kleiner Bruder in sein Zimmer geschickt worden, wenn die Erwachsenen wichtige Sachen zu besprechen gehabt hatten. Er richtete sich auf, um zu zeigen, dass er reif genug war für diese Aufgabe.
Shibeka kam und setzte sich neben ihn. Sie hatte ihr Kopftuch gerichtet, und der schwarze Stoff betonte ihr blasses Gesicht. So ordentlich hatte sie es schon lange nicht mehr zurechtgezupft. Genau wie er verstand sie den Ernst der Lage angesichts dieser Männer.
Eine Weile herrschte Schweigen. Memel sah alle der Reihe nach an, ehe er zu sprechen begann: «Wir haben gehört, was Shibeka gerade macht. Wir möchten mit euch darüber reden. Euch die Chance geben, euch zu erklären.»
Mehran sah, wie seine Mutter den Blick senkte. Es war seine Aufgabe zu antworten. Zuerst war er ein wenig enttäuscht von seiner Stimme. Sie klang
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