Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
rotem Cord bezogen war. Sie schlurfte in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Im Flugzeug hatten sie einen Kaffee und ein kleines Sandwich bekommen, aber sie hatte immer noch Appetit, ihr Kühlschrank konnte da nur leider keine Abhilfe schaffen. Zwar lagen ein Stück Käse und eine Tube Kalles Kaviar darin, doch als sie einen Blick auf die Arbeitsfläche warf, fiel ihr auf, dass kein Brot mehr im Korb war. Sie nahm einen Becher Joghurt aus der Kühlschranktür, doch das Haltbarkeitsdatum war seit drei Tagen abgelaufen. Mit der Milch war es dasselbe. Sie roch an beidem, und die Sachen schienen noch gut zu sein, aber sie hatte den Appetit verloren. Es war wirklich traurig, ihr Kühlschrank war wie das Klischee vom Leben einer frisch geschiedenen Frau. Vermutlich hätte er früher regelmäßig so ausgesehen, wenn Micke ihn nicht immer gefüllt hätte. Einzukaufen und dafür zu sorgen, dass Bella immer etwas zu essen hatte, war seine Aufgabe gewesen. Eine von vielen.
Sie schloss die Kühlschranktür, nahm die Post, ging damit ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa und öffnete die Briefe. Es war nichts dabei, das sie interessierte oder in eine bessere Stimmung versetzte. Fernsehen? Sie sah auf die Uhr. Sie konnte die Nachrichten auf TV4 sehen, hatte aber keine rechte Lust. Dann nahm sie ihr Telefon und wog es in der Hand. Sollte sie anrufen? Eigentlich wäre es doch ganz normal, seine Tochter anzurufen und sie wissen zu lassen, dass man wieder zu Hause war. Dabei hatte sie das noch nie gemacht, beschloss aber, dass sie ab sofort zu den Eltern gehören wollte, die es taten. Seit ihrem Besuch in Uppsala hatte sie zweimal mit Bella gesprochen. Beide Male hatten sie sich auf sicherem Terrain bewegt, nur über Alltäglichkeiten wie Studium und Arbeit geredet und erfolgreich den Vorfall am Bahnhof vermieden. Dennoch war er die ganze Zeit präsent gewesen, wie ein weiterer Ziegelstein in der ohnehin schon hohen Mauer, die mit den Jahren zwischen ihnen gewachsen war. Ursula verstand, dass es an ihr war, sie ein wenig abzutragen.
Bella meldete sich nach dem dritten Läuten.
«Hallo, ich bin es», sagte Ursula und richtete sich unbewusst auf dem Sofa auf. «Störe ich?»
«Ein bisschen, ich bin gerade mit ein paar Freunden unterwegs.»
Jetzt hörte Ursula die unverkennbaren Geräusche von irgendeiner Kneipe oder einem anderen Lokal im Hintergrund. Musik, Gelächter, Leben.
«Ich wollte dir nur kurz sagen, dass ich gut zu Hause angekommen bin.»
«Du warst weg?»
Ursula ermahnte sich selbst, nicht enttäuscht zu sein. Wie sollte Bella auch wissen, wo sie gewesen war? Wenn sie gewollt hätte, dass die Tochter es wusste, hätte sie vor ihrer Reise anrufen und es ihr erzählen müssen. Sie beschloss, auch das künftig einzuführen.
«Ja, ich war in Jämtland.»
«Dieses Massengrab?»
«Ja.»
«Und, wie lief es?»
«Wir sind noch nicht fertig, wir haben die Ermittlungen nach Stockholm verlegt.»
Dann wurde es eine Weile still.
«Wolltest du irgendetwas Bestimmtes?», fragte Bella schließlich.
Ursula antwortete nicht sofort. Was wollte sie eigentlich? Sie wollte sagen, wie komisch es war, in eine leere Wohnung zu kommen, wollte sich zu Bella nach Uppsala einladen, fragen, ob sie nicht bald einmal zusammen wegfahren könnten. Irgendwohin, wo es warm und sonnig war. Diesen abscheulichen November hinter sich lassen. Nur sie beide. Das wollte sie eigentlich sagen.
«Nein. Alles in Ordnung bei dir?», fragte sie stattdessen.
«Ja. Ich muss ziemlich viel lernen, aber sonst alles okay.»
War das ein dezenter Wink, dass sie weder Zeit für einen Besuch von Ursula hatte, noch dafür, zu ihrer geschiedenen Mutter zu fahren, oder war es einfach nur eine Antwort auf ihre Frage?
«Nein, sonst ist eigentlich nichts, ich wollte mich nur mal melden.»
«Okay. Aber dann können wir vielleicht am Wochenende in Ruhe telefonieren?»
«Ja, können wir. Jetzt geh du nur wieder zu deinen Freunden.»
«Also gut, dann bis bald.»
«Ja, bis bald.»
Bella hatte die Verbindung bereits beendet. Ursula blieb mit dem Telefon in der Hand sitzen. Heute Abend würde sie nicht zur Ruhe kommen, nicht, wenn sie allein in der Wohnung blieb. Sie stand auf und ging zurück in den Flur, zog sich Jacke und Schuhe wieder an. Das war bei weitem nicht das Szenario, das sie sich erträumt hätte, aber immerhin war er jemand, und sie brauchte jetzt jemanden.
Sie fuhr sich mit der Hand durch das Haar und zupfte nervös ihre Jacke zurecht, ehe sie
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