Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
bisschen über Eyer und die Schule und die gemeinsamen Freunde, ehe das Gespräch ins Stocken kam. Mehran hatte anderes im Kopf. Falls Ali das Schweigen unangenehm war, ließ er sich das nicht anmerken. Er war wohl vor allem froh darüber, dass jemand, der so viel älter war als er, mit ihm zusammen Zeichentrickfilme ansah. Das war wahrscheinlich auch nicht verwunderlich. All seine Freunde hatten Geschwister, er war das einzige Einzelkind.
Schließlich war ein Schlüssel im Schloss zu hören.
Ali freute sich. «Jetzt kommt sie», rief er.
«Gut», sagte Mehran und stand abrupt auf. Er bedachte Ali mit einem harten Blick.
«Geh in dein Zimmer.»
Ali wirkte schockiert. «Aber warum?»
«Geh in dein Zimmer, habe ich gesagt. Und zwar sofort!»
Ali erhob sich widerwillig. Sein Blick war trotzig. Dies war sein Zuhause, er dachte nicht daran, dem älteren Jungen zu gehorchen.
Es ärgerte Mehran, dass er sich nicht besser durchsetzen konnte. Dass er offensichtlich keine ernstzunehmende Autorität war. Gleichzeitig wollte er Ali aber auch nicht länger anherrschen. Er war nur ein unschuldiger Junge, genau wie er selbst es einmal gewesen war.
Wahrscheinlich war das Mehrans Problem. Zu viele Gefühle.
«Ich muss mit deiner Mutter sprechen», sagte er, diesmal in erklärendem Ton. «Allein.»
Ali kam nicht mehr dazu zu antworten, Melika hatte bereits die Wohnung betreten. Sie hielt eine Einkaufstüte in der Hand und sah Mehran schockiert an.
«Was willst du hier, Mehran?»
«Ich dachte, das wüsstest du.»
Er ging an Ali vorbei, der wie versteinert dastand und offenbar nicht wusste, wie er reagieren sollte.
«Was ist passiert, Ali?», fragte sie nervös.
Mehran antwortete an seiner Stelle: «Ich habe ihn gebeten, in sein Zimmer zu gehen. Ich weiß, dass du lügst. Ich dachte, er müsste das ja nicht alles mitanhören.»
Sie erbleichte und stellte die Tüte auf dem Boden ab.
«Verschwinde von hier, Mehran. Sofort.»
Mehran schüttelte den Kopf. Er würde nicht klein beigeben. Niemals.
«Du musst es nicht meiner Mutter erzählen. Aber mir musst du es erzählen.»
«Was soll ich erzählen? Wovon redest du?»
«Ich war in Saids Laden. Dem Laden deines Mannes. Dem Laden von Alis Vater. Kannst du dir vorstellen, was die Männer mir dort erzählt haben?»
Eine Sekunde lang wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Er sah, dass seine Worte zu ihr vordrangen, dass sie den Schutzwall aus Lügen überwunden hatten. Sie stand stumm da, als hoffte sie, dass er irgendwann aufgeben und verschwinden würde, wenn sie nur schwieg. Keine Chance. Er fühlte sich stärker denn je. Seine Nervosität war Willensstärke gewichen.
«Ich kann es auch Memel erzählen, wenn dir das lieber ist. Ihn würde es sicher sehr interessieren, dass deine Cousins und Said Streit hatten. Dass sie den Laden, nur einen Monat nachdem er verschwunden war, verkauft haben. Oder weiß er das vielleicht schon? Wissen es alle außer uns?»
«Das ist nicht wahr», sagte sie schließlich leise und sank auf den Hocker, der neben der Tür stand.
«Was ist nicht wahr, Melika?»
Sie starrte zu Boden. Auf ihre eigenen Füße. Dann wandte sie sich ihrem Sohn zu.
«Tu, was er sagt, und geh auf dein Zimmer.»
Ali sah sie verwundert an. «Aber Mama?»
«Geh, habe ich gesagt!», schrie sie. Mehran hatte das Gefühl, dass ihr die Stimme nicht mehr gehorchen wollte. Er dagegen hatte seine Stimme gefunden.
Ali verschwand in seinem Zimmer. Wahrscheinlich würde er Mehran nie wieder so sehen, wie er es zuvor getan hatte.
Jetzt blickte Melika ihn an. Ihre Augen waren nicht mehr feindlich, nur noch traurig. «Ich weiß nicht, was passiert ist, Mehran. Ich weiß es wirklich nicht.»
«Aber du weißt mehr, als du gesagt hast, oder?»
Sie nickte vorsichtig, fast unmerklich.
«Wer ist Joseph?»
Nun wurde sie weiß wie ein Gespenst. «Ein böser Mensch. Es ist alles seine Schuld.»
Jetzt wirkten ihre Augen nicht mehr traurig. Stattdessen erkannte er etwas anderes darin. Eine nagende Unruhe, vielleicht sogar Furcht.
Er streckte seine Hand nach ihr aus. Jetzt wollte er sanftmütig sein. Er glaubte, dass die Wahrheit es erforderte.
«Erzähl es mir», sagte er.
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M organ Hansson hatte Anitha an diesem Abend mit vielen neuen Seiten von sich überrascht. Er war keinesfalls ein Troll.
Er war etwas viel Schlimmeres.
Ein Lebemann.
Ein Mann, der wirklich wusste, wie er die Karten ausspielte, die man ihm zugeteilt hatte. Nachdem sie ihm die
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