Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
jeweiligen rosafarbenen Anstrichs voneinander unterscheiden. Anfang der Siebzigerjahre hatten die Städter aus Bologna und Modena ihr Anrecht auf Urlaub und bald darauf die Hügel, die bereits in die Berge des Apennins übergingen, entdeckt. Hastig wurden Häuser für sie hochgezogen, ohne allzu sehr darauf zu achten, ob sie zu den Steinhäusern auf dem Land oder der rechteckigen Anlage eines Dorfes passten oder nicht. Nach nicht einmal zwanzig Jahren war die Welle der Sommerurlauber in derselben Geschwindigkeit, mit der sie aufgelaufen war, wieder abgeebbt: Sie hatten die Karibik entdeckt. Nur die großen Bauten waren geblieben, heute zu zwei Dritteln leer stehend. Hier hatten sich die wenigen Ausländerfamilien niedergelassen, die die Einwohner von Case Rosse so sehr zu beschäftigen scheinen, und dazu der eine oder andere ältere Mensch, der eine Fehlinvestition getätigt hat, sowie ein paar junge Leute, denen es gelungen ist, zu moderaten Preisen ein Dach über dem Kopf zu ergattern.
Die halb mit Schnee bedeckte grüne Markise der Pizzeria Vesuvio, offensichtlich geschlossen, ist klar zu erkennen. Mit dem Handschuh streift Alice den Schnee von dem Schild neben der Pforte zum Nachbargebäude. Die Hausnummer 1120. In den Bergen heißt das, dass sie seit der Straßeneinmündung nur etwas mehr als einen Kilometer gegangen ist. Sie hätte gewettet, dass es zehnmal so weit gewesen ist. Die Rettungswache, bei diesem Wetter nicht zu sehen, hat die Nummer 2000 und ein paar Zerquetschte, glaubt sie sich zu erinnern.
Das Haus hat einen verwaschen rosafarbenen Anstrich, zwei Stockwerke mit Balkonen über das Tal hinweg wie alle anderen. Sie hat den Eindruck, als seien seine Fenster die einzigen erleuchteten. Sie durchquert den verschneiten Garten, wobei sie sich ständig umschaut. Mit der Pistole zeigt sie auf alles, was sich bewegt. Schneeflocken, überwiegend.
»Wie bescheuert«, wirft sie sich selbst mit lauter Stimme vor. Zu laut. »Sag ich doch.«
An der Haustür angekommen, macht sie sich Sorgen wegen der Fußabdrücke, die sie hinterlassen hat, und fragt sich, ob sie sie irgendwie verwischen kann. Die Feststellung, dass es die einzigen Abdrücke sind, heitert sie ein wenig auf. Die vorübergehende Beruhigung löst sich sofort wieder auf: Bei solchem Schneefall dauert es nicht länger als ein paar Minuten, bis irgendwelche Spuren verschwunden sind. Möglicherweise ist jemand ins Gebäude gegangen und hält sich noch darin auf.
Das Klingelschild befindet sich in einem überdachten Atrium, das mit einer runden Neonleuchte ausgestattet ist. MATTIA BONDI , 2. STOCK , INNEN 19. Sie ist hier richtig, auch wenn sie sich kaum stärker am falschen Ort vorkommen könnte.
Die Hand, die die Pistole umklammert, zittert. Sie versucht, allen Mut zusammenzunehmen, um weiterzugehen. Wenn der Mörder in diesem Gebäude ist, ist sie bereit, das Feuer zu eröffnen.
»Ich hoffe, ich krieg das hin«, sagt sie leise. Sie zieht die Handschuhe aus, um einen besseren Griff zu haben.
Sie bewegt den Messingknauf der Glastür, die zum Inneren des Gebäudes führt. Mit einem Knoten im Magen stellt sie fest, dass offen ist. Wahrscheinlich schließt in so kleinen Dörfern niemand seine Haustür mit dem Schlüssel ab. Wahrscheinlich.
Sie beginnt, das anonyme Treppenhaus in nachgemachtem weißem Marmor hinaufzugehen.
6
D urch das Zimmer ist ein Wirbelsturm gefegt. Überall aufgerissene Hüllen. Schallplatten, wütend an die Wand geworfen. Meterlange Tonbandschlangen, aus den Musikkassetten gezogen. Zerbrochene CD s. Roberto spürt den Verlust. Er hat etwas gesucht. Etwas, das er nicht gefunden hat. Er legt eine Hand an die Hosentasche. Etwas, das ich bei mir habe.
Auf das Blatt mit dem Perimeter des Falls hat jemand in den Kreis für »Motiv« in kleinen, säuberlichen Buchstaben geschrieben: DIE GERECHTIGKEIT DER MÄRTYRER . Ein Grafologe würde die Hand erkennen, die dieselben Wörter auf den Zettel geschrieben hat, den Berto Guerzoni in der Hand hatte.
Er schüttelt den Kopf, als er an die Fehler denkt, die in der Eile, den Fall abzuschließen, begangen worden waren. Doch jetzt ist keine Zeit, darüber zu klagen, dieses Durcheinander ist nicht das Schlimmste im Zimmer. An die Wand ist ein riesiges Ypsilon geschmiert, mit demselben Stift, der mit abgebrochener Spitze auf dem mit Schallplattenscherben übersäten Bett liegt. Und die Beretta ist aus dem Tresor im Schrank entwendet worden.
Der Mörder ist außer Kontrolle. Mein Tod hätte
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