Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
seine unerhörte Dreistigkeit und Kühnheit. Nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, in welchem Raume des Gefängnisses sich die verhaftete Frau befand, ging er geradeswegs hin und trat so forsch mit der Miene eines höheren Beamten auf, daß der Posten die Houneurs machte und stramm stand. »Stehst du hier schon lange?«
»Seit heute morgen, Euer Wohlgeboren.« – »Dauert es noch lange, bis du abgelöst wirst?« – »Drei Stunden, Euer Wohlgeboten.« – »Ich werde dich nötig haben. Ich werde dem Offizier sagen, er möge statt deiner einen anderen herschicken.« –»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren.« Darauf fuhr er, ohne eine Minute zu verlieren, nach Hause, damit er nur ja keinen anderen hinzuzuziehen brauchte und nichts ruchbar wurde, verkleidete sich selbst als Gendarm und hatte nun auf einmal einen solchen Schnurr- und Backenbart, daß der Teufel selbst ihn nicht erkannt hätte. Er begab sich nach dem Gefängnisse, griff unterwegs das erste beste Weib, das ihm vorkam, auf, übergab dasselbe zwei jungen Beamten, ebenfalls geriebenen Patronen, und erschien dreist mit Schnurrbart und Gewehr, ganz ordnungsmäßig, vor dem Posten, mit dem er kurz vorher gesprochen hatte. »Scher dich zum Teufel! Der Hauptmann hat mich hergeschickt; ich soll dich ablösen.« Er löste ihn ab und stand selbst mit dem Gewehr Posten. Nun bedurfte es weiter keiner Künste. Während er Posten stand, wurde an Stelle der früheren Frau die andere gesetzt, die von nichts wußte und nichts verstand. Die erste Frau wurde irgendwo so gut versteckt, daß auch nachher niemand wußte, wo sie geblieben war. Während Samoswitow so seine militärische Rolle spielte, vollführte der Rechtsanwalt Wundertaten auf zivilistischem Gebiete: dem Gouverneur gab er auf Umwegen zu wissen, daß der Staatsanwalt eine Denunziation gegen ihn schreibe; dem Chef der Gendarmerie teilte er mit, ein Beamter, von dem man wußte, daß er sich im geheimen in der Stadt aufhielt, schreibe gegen ihn eine Denunziation; dem Beamten, der sich im geheimen in der Stadt aufhielt, brachte er die Überzeugung bei, daß es einen noch geheimeren Beamten gebe, der ihn denunzieren wolle – so versetzte er alle in eine solche Lage, daß sie sich sämtlich bei ihm Rat holen mußten. Es war ein reines Chaos: es erfolgte eine Denunziation über die andere, und es wurden Dinge ans Licht gebracht, die bisher tiefverborgen gewesen waren, ja auch solche, die überhaupt nicht existierten. Alles wurde herangezogen und verwertet: wer ein unehelicher Sohn war, und von welcher Herkunft und welchem Stande er eigentlich war, und wer sich eine Geliebte hielt, und wessen Frau mit jemandem ein Verhältnis hatte. Skandalgeschichten, anstößige Vorgänge und all dergleichen wurden dermaßen mit Tschitschikows Angelegenheit und den toten Seelen vermischt und vermengt, daß man schlechterdings nicht sagen konnte, welche von diesen beiden Gattungen der tollste Unsinn sei: sie waren beide eine der anderen würdig. Als dann die Akten endlich an den Generalgouverneur gelangten, konnte der arme Fürst absolut nicht daraus klug werden. Ein sehr verständiger, gewandter Beamter, der beauftragt war, einen Auszug daraus zu machen, wurde bei dieser Arbeit beinah verrückt: es war völlig unmöglich, den hindurchgehenden Faden zu finden. Der Fürst hatte in dieser Zeit gerade seine Sorgen mit einer Menge anderer Angelegenheiten, von denen eine immer unangenehmer war als die andere. In einem Teile des Gouvernements war eine Hungersnot ausgebrochen. Die Beamten, welche hingeschickt waren, um Brot zu verteilen, waren dabei nicht so verfahren, wie sie gesollt hatten. In einem anderen Teile des Gouvernements rührten sich die Sektierer. Es hatte jemand unter ihnen das Gerücht ausgesprengt, der Antichrist sei in der Welt erschienen und lasse nicht einmal den Toten ihre Ruhe, sondern kaufe tote Seelen. Daraufhin hatten die Sektierer Buße getan, aber weiter gesündigt und unter dem Vorwande, sie wollten den Antichrist fangen, mehrere Leute getötet, die mit dem Antichrist gar nichts zu tun hatten. An einem anderen Orte hatten sich die Bauern gegen die Gutsbesitzer und den Bezirkshauptmann empört. Irgendwelche Landstreicher hatten bei ihnen das Gerücht verbreitet, jetzt sei die Zeit gekommen, wo die Bauern Gutsbesitzer werden und Fracks tragen müßten; die Gutsbesitzer aber müßten Bauernkittel anziehen und Bauern werden – und infolgedessen hatte eine ganze Bauerngemeinde, ohne zu überlegen, daß es ja dann
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