Die Totenfrau des Herzogs
Da Hákon ihr auf den Fersen war, hielt Ima den Mund, um nicht versehentlich den Namen ihres Begleiters preiszugeben, und tippte ihn nur mit dem Fuß an. Schwach hob er den Kopf, zeigte sein von der Sonne versengtes Gesicht. Aufgesprungene Lippen verrieten, welchen Durst er in der Gluthitze litt und dass sie ihn vermutlich schon länger nicht mehr mit Nahrung versorgt hatten.
Ihr Herz schlug wild. Sollte etwa alles umsonst gewesen sein? Bevor er sich durch ein Wort verraten konnte, kniete sie neben ihm nieder und legte ihm die Hand auf die Stirn.
»Schweigt«, murmelte sie, »schweigt - ich gebe mein Bestes. Schweigt, das rettet unser beider Leben.« Die Hitze setzte ihm zu, denn er nickte nur langsam, und sein Blick wanderte über ihr Gesicht, als hätte er Mühe, sie zu erkennen. »Schweigt - und bleibt am Leben. Versprecht es mir.« Verstohlen drückte sie seinen Arm.
»Na, das spornt dich sicher an«, höhnte Hákon hinter ihr. Er fuhr zurück, als sie aufsprang und einen Satz auf ihn zumachte.
»Ihr seid im Weg!«, zischte sie.
Örn empfing sie mit amüsiertem Lächeln und übertriebener Höflichkeit. »Habe ich Euch inspirieren können?«, fragte er ironisch. Stumm vor Empörung rauschte sie an ihm vorbei und nahm ihren Platz am Feuer ein. Dann sah sie kurz hoch und betrachtete seine lässig auf das Schwert gestützte Gestalt.
»Ihr habt Eure Strafe bereits«, murmelte sie, gerade
so laut, dass er es hören konnte. »Stellt Euch niemals die Frage nach Gerechtigkeit.«
Das Pferd mochte zwar nicht recht vorwärtskommen, doch immerhin lief es, auch durch Rauch und an brennenden Bäumen vorbei, zuverlässig und ohne zu scheuen. Ganz sicher war es ein Köhlerpferd gewesen. Ein wenig beruhigte dieser gemächliche Schritt auch Gérards aufgewühltes Herz. Mit bebenden Händen presste er den Stofffetzen an sich und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Dass ihr Kleid zerrissen war, hieß ja nicht, dass sie tot war. Sicher nicht. Ganz sicher nicht, das würde er doch spüren. Wo mochte sie sein? Hatten die Nordmänner sie verschleppt? Vergewaltigt? Oder lag sie doch bereits auf dem Grund dieses riesigen Sees? Das Pferd schnaubte und schüttelte den Kopf, aber sicher nur wegen der dichten Rauchschwaden, die das Atmen erschwerten. Gérard war trotz seiner Aufregung klug und blieb am Ufer, wo das Wasser noch frische Luft schenkte. Wenn er dem Ufer weiter folgte, musste er ja irgendwann auf eine Siedlung treffen - irgendwer würde ihm schon sagen können, wo sich hier Nordleute im Auftrag des Basileus aufhielten. Vielleicht hatte sie auch jemand gesehen.
Die Hoffnung war so klein wie ein Tropfen in diesem düsteren Meer, doch sie zog auch Kreise wie der Tropfen, wenn er auf das Wasser traf, und sie gab ihm die Kraft, weiterzureiten und zu suchen …
Am Dorfeingang brachte ein Tumult Leben ins schläfrige Lager. Unter den hohen Pinien hallte der Lärm wie in einer Kirche wider. Überall um die Häuser herum erhoben sich Gestalten, von denen längst nicht alle einen Schlafplatz unter dem Dach fanden, sie wankten vorwärts, brummend, fluchend, zotige Witze reißend. Vielleicht war das auch täglich so. Der alltägliche Umgang unter Warägern hatte nicht
viel mit dem gemein, was Ima aus Salerno gewohnt war. Die ersten griffen nach ihren zerbeulten Buckelschilden und rannten los - da schien ja mehr als eine Prügelei im Gange zu sein, niemand wollte fehlen. Ima duckte sich über ihren Tiegeln. Man überlebt den Krieg nur, wenn man durch ihn hindurchgeht.
Selbst die Kranken hoben jetzt neugierig die Köpfe. »Heee - haut drauf!«, lallte einer.
»Genau - haut drauf, servier mir den Kopf als Suppennapf!« Der Rest ging in Husten über, weil Ima dem Rothaarigen einen guten Schwung Bärlappsalbe auf die Wundfläche schmierte und er sich nicht zu wehren wagte, nachdem ihm das bereits eine Kopfnuss eingebracht hatte. Der Lärm im Lager nahm zu, ein Pferd wieherte schrill, Hunde kläfften. Weiter vorn hörte man Männer wie in der Schlacht brüllen. Metall klirrte im Verein mit Wut, Gelächter schlug um in Geschrei. Ein richtiger Kampf war entbrannt, ohne ersichtlichen Grund.
»Was beim Thor …« Örn gab seinem Hauptmann ein Zeichen, und Hákon rannte los, mit klappernden Schuhen über den Bohlenweg. Ein paar waffenstarrende Waräger folgten ihm. Einer trat eine Ziege aus dem Weg und zog im Lauf das Schwert.
»Gebt die Frau heraus!«, erhob sich da eine mächtige Stimme über den Lärm. »Gebt sie
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