Die Totensammler
rieselten, die jetzt an Adrians Körper kleben und jucken.
Schließlich hält er es nicht mehr aus. Das Fenster steht offen, und die Vorhänge wehen im Wind sanft hin und her, streichen über das Sims. Er macht das Licht an. Seine Schlafanzughose ist schweißnass, und an der rechten Seite klebt Blut. Er zieht sie aus. Der Verband hat sich gelockert, hängt über dem Oberschenkel, genau zwischen Knie und Hüfte. Als er nach draußen tritt, hält er ihn fest, damit er nicht runterrutscht. Er hat keine Ahnung, wie viel Grad es sind, aber es ist immer noch warm, wärmer als normalerweise um diese Zeit – zumindest vermutet er das, denn sonst ist er nach Mitternacht nicht draußen unterwegs. In The Grove war er immer in seinem Zimmer eingesperrt, was ziemlich unangenehm war, wenn man auf die Toilette musste. Man musste einfach warten. Und in der offenen Einrichtung verließ man das Haus nach Einbruch der Dunkelheit nur, wenn man ein Verbrechen begehen oder einem zum Opfer fallen wollte.
Er schiebt den Verband herunter und kratzt sich am Bein. Es blutet und tut weh, und eine gelbe Flüssigkeit suppt heraus, doch wenigstens hört es für ein paar Sekunden auf zu jucken. Er könnte versuchen, Coopers Mutter um Hilfe zu bitten, doch er ist sich ziemlich sicher, dass sie das nicht möchte, ganz gleich, wie sehr er sich auch bemüht. Außerdem ist er sauer auf sie, weil sie ihm nicht geglaubt hat. Ihr Sohn war voller Blut, weil er mit dem Messer auf das Mädchen eingestochen hat, und trotzdem kommt er wie der Gute in dieser Geschichte rüber. Das nervt. Er hätte nicht gedacht, dass Cooper ihm so was antun würde. Eigentlich sollten sie Freunde sein, oder?
Er wünschte, er könnte die Wunde selbst verarzten. Sie muss gesäubert werden, so viel weiß er. Sonst entzündet sie sich. Und manchmal müssen entzündete Gliedmaßen amputiert werden.
Bei der Vorstellung fängt er unwillkürlich an zu weinen. Er dreht sich um und schluchzt in das Kissen, und für einen Moment ist es ihm egal, wer zuletzt darauf gelegen hat. Er denkt nur noch an eine Zukunft mit bloß einem Bein, und stellt sich vor, wie er im Zimmer auf und ab geht und Probleme hat, mit einer ungeraden Anzahl Beine auf eine gerade Schrittzahl zu kommen. Schließlich hört er auf zu schluchzen, humpelt ins Badezimmer und durchsucht den Arzneischrank. Er ist ziem lich voll, doch bei genauerem Hinsehen entdeckt er lauter Zah len mit den Worten haltbar bis davor. Das muss der Tag sein, an dem die Medikamente verfallen. Viele Sachen hier sind schon abgelaufen. Er weiß nicht, ob abgelaufene Medikamente nicht mehr wirken oder weniger stark sind, oder ob sie seinen Zustand womöglich sogar verschlechtern. Es gibt eine Desin fektionscreme, die bis vor zwei Monaten haltbar war, die ist bestimmt noch in Ordnung. Die Schmerzmittel sind alle schon vor ein paar Jahren abgelaufen. Das Verbandszeug hin gegen ist bestimmt unbegrenzt haltbar. Und es gibt hier so etwas wie Mullbinden, die aussehen, als könnten sie ihm nützlich sein. Dazu eine scharfe Schere, um etwas zurechtzuschnei den. Und eine Sicherheitsnadel zum Befestigen von Verbänden. Er schließt den Arzneischrank und starrt in den Spiegel. Sein Gesicht ist gerötet, und unter dem Haaransatz hat sich ein leichter Ausschlag gebildet. Er hofft, das kommt von der Hitze und nicht von einer Infektion, die durch seinen Körper nach oben gewandert ist. Er möchte noch nicht sterben. Nicht jetzt, wo das Leben gerade so schön ist.
Er drückt sich den Handrücken gegen die Stirn, wie er es bei anderen Leuten gesehen hat – die Haut fühlt sich warm an. Fieber? Oder nur der Stress und die extreme Hitze? Er hält die Hände unter den Wasserhahn, füllt sie mit Wasser und spritzt es sich ins Gesicht. Sofort geht es ihm besser, doch dafür rutscht der Verband an seinem Bein hinunter. Seine Tränen vermischen sich mit dem Wasser in seinem Gesicht. Er wünschte, seine Mutter wäre jetzt hier. Eine von beiden.
Er dreht die Dusche auf, steigt hinein und lässt das Wasser über sein Bein laufen. Er kann spüren, wie die Entzündung von seiner Haut gespült wird, doch gleichzeitig fühlt er, wie sie juckend durch seinen Körper wandert. Auch wenn er sie nicht sehen kann, weiß er, dass sie da ist. Mit einem Waschlappen reibt er über die Wunde. Der Riss, eine lange Furche, ist unge fähr so lang wie sein Finger und auch ungefähr so tief und breit. Zwei Zentimeter weiter links, und die Kugel hätte ihn verfehlt, zwei Zentimeter weiter
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