Die Totensammler
seiner Stirn eine Beule bildet, scheint ihm egal zu sein. Ich schüttle ein paar Pillen aus der Flasche und halte sie ihm hin, aber er nimmt sie nicht. Er schaut sie nicht mal an, scheint sie gar nicht wahrzunehmen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er mich wahrnimmt. Auf der Innenseite seines Arms ist eine große Bissspur. Sie stimmt garantiert mit seinen Zähnen überein. Sein Hunger ist größer, als ich dachte.
»Sie müssen mir von den Zwillingen erzählen.«
»Sie war so hübsch«, sagt er. »So unschuldig. Ich musste einfach von ihr kosten. Ich musste. Es war nicht meine Entscheidung, immer wieder hat es mich dazu aufgefordert, immer und immer wieder, nachts wenn ich im Bett lag, und dann habe ich es getan. Nur so konnte ich es zum Schweigen bringen, dieses Monster ohne Namen in mir drin.«
Ich betrachte das Fotoalbum. Er spricht von seiner Schwester. Das Bild von ihm und seiner Schwester, das mich von dort unten anstarrt, hat keinerlei Ähnlichkeit mit den beiden, als ich sie das letzte Mal gesehen habe.
»So viel Blut«, sagt er, »und ich hasse …« Er hält inne. Mitten im Satz hört er auf zu reden, schließt die Augen und fängt an, langsam hin und her zu schaukeln, zunächst noch ganz sachte, doch dann immer stärker, bis er vom Stuhl fällt und, das Gesicht voran, der Länge nach auf dem Boden landet. Ich springe auf seinen Rücken und reiße seinen Kopf hoch, öffne seinen Mund, stopfe ein paar Pillen hinein und drücke ihn zu, während ich ihm die Nase zuhalte. Er wehrt sich nicht.
Dann setze ich ihn wieder in den Stuhl, und er starrt vor sich hin, als wäre nichts passiert.
»Die Zwillinge«, sage ich. »Waren sie richtige Zwillinge?«
»Sie hat süß geschmeckt«, sagt er. »Wie Bonbons.«
Irgendwie glaube ich das nicht. »Jesse, bitte, versuchen Sie sich an Grover Hills zu erinnern.«
»Nein.«
»Bitte.«
»Nicht an Grover Hills.«
»Es gab dort zwei Pfleger.«
»Die Zwillinge«, sagt er.
»Waren sie Brüder?«
»Sie waren Zwillinge.«
»Wissen Sie ihren Namen?«
»Buttons kennt ihn.«
»Was?«
»Buttons«, sagt er und bohrt seinen Zeigefinger in seinen Unterarm. »Buttons war auch dort.«
»Ist Buttons eine Katze?«
»Nein«, sagt er und fügt hinzu: »Buttons.« Dann hält er die Finger an den Mund und tut so, als würde er eine Zigarette rauchen und sie auf seinem Arm ausdrücken. Einen Moment später neigt sich sein Kopf nach hinten, er schließt die Augen und schläft ein.
Kapitel 50
Adrian kann nicht schlafen.
Es ist sein Bein. Der Verband ist blutgetränkt, weil er unaufhörlich an der juckenden Wunde gekratzt hat. Er bohrt seine Fingernägel hinein, damit es endlich aufhört. Vergeblich. Coopers Mutter hat gesagt, dass die Wunde genäht werden muss, doch als man ihn damals zusammengeschlagen und vollgepinkelt hat, wurde er schon mal genäht. Das war keine schöne Erfahrung, und er wüsste nicht, warum es jetzt anders sein sollte.
Außerdem kann er nicht schlafen, weil er nicht abschalten kann. Er hat den Kleber nicht gefunden, obwohl er sich absolut sicher war, dass er ihn aus der Tasche der einen Hose in die derjenigen getan hat, die er aus dem Haus von Coopers Mum mitgenommen hat. Doch je länger er darüber nachdenkt, desto unsicherer wird er, desto mehr verändert sich seine Erinnerung. Inzwischen weiß er nur noch, wie er den Kleber mit seinen alten Klamotten aufs Bett gelegt und die Taschen geleert hat, aber nicht mehr, was danach kam.
Er denkt an Theodore Tate und daran, dass er selbst jetzt tot sein könnte, wenn dessen Hand nicht bandagiert gewesen wäre. Deswegen konnte Tate nicht so schnell abdrücken. Er denkt an die Zwillinge, an die Leute, die er in der offenen Einrichtung kennengelernt hat, und an seine beiden Mütter. Er muss unaufhörlich an andere Menschen denken, darum kann er nicht einschlafen. Und an den Gesichtsausdruck von Coopers Mutter, als er die Kassette abgespielt hat. Er musste sie nur ein paar Sekunden laufen lassen, dann hat er die Tür geschlossen, denn er wusste schon, was als Nächstes passiert. Sie hat es verdient. Sie ist eine schlechte Mutter gewesen. Schlechte Mütter kriegen genau, was sie verdienen.
Das Bett ist nicht bequem. Einer der Zwillinge – er weiß nicht, welcher von beiden – hat darin geschlafen, und dieses Bild bekommt er nicht mehr aus dem Kopf: Ein Mann, der ihn so schlecht behandelt hat, lag nachts unter diesen Decken, während von seinem Gesicht Hautpartikel in die Bettritzen und Falten der Kissenbezüge
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