Die Totensammler
ein Idiot vorkommt. Er hat keine Ahnung, warum er dachte, sie meint das Bein – das ergibt ja gar keinen Sinn. Er kommt sich blöd vor. Früher hätten die anderen ihn ausgelacht, weil er so etwas Einfaches falsch verstanden hat.
»Es wird wehtun«, warnt sie ihn, »aber das ist bestimmt kein Problem für dich. Lass es uns erst ein wenig einweichen. Dann löst es sich leichter.«
»Okay. Danke.«
Sie taucht einen der Lappen ins Wasser. Währenddessen betrachtet er ihre Finger, ihre Arme und das Haar, das an ihrem Gesicht klebt. Sein Herz pocht wie wild. Sie drückt den Lappen aus, und ihm gefällt das Geräusch des tropfenden Wassers. Es weckt in ihm den Wunsch, schwimmen zu gehen, etwas, das er nicht mehr getan hat, seit er ein kleiner Junge war. Sie drückt den Lappen gegen die Kompresse auf seinem Oberschenkel, schaut zu ihm auf und lächelt. Er merkt, wie er weiche Knie bekommt. Er hat das Gefühl, sich setzen zu müssen. Sie knibbelt eine Ecke der Kompresse ab. Sie klebt immer noch fest, allerdings nicht mehr so stark.
»Es dauert noch etwas«, sagt sie. »Oder ich ziehe sie mit einem Ruck ab. Ist dir das lieber?«
»Ja«, sagt er und hat es kaum ausgesprochen, als – ratsch – die Kompresse von seinem Oberschenkel gerissen wird. »Au. Aua, das …«
»Das war wirklich tapfer«, sagt sie und lächelt ihn an.
Er erwidert ihr Lächeln, lässt sich den Schmerz nicht anmerken. Sie erinnert ihn an Katie, das Mädchen, in das er mal verliebt war. Allerdings ist Emma viel netter und viel schöner. Und so hilfsbereit. Obwohl sie um einiges jünger als Adrian ist, ist er hin und weg von ihr. Als wäre er wieder dreizehn. Seine Mutter würde zwar behaupten, er wäre besessen, aber das ist ein Irrtum.
»Dann sehen wir uns das Ganze mal an«, sagt Katie – nein, nein, nicht Katie, Emma. Wenn sie demnächst auf der Veranda sitzen und sich den Sonnenaufgang anschauen, darf er diesen Fehler nicht machen. »Hmm, das sieht wirklich fies aus. Ich werde es säubern«, sagt sie und befeuchtet mehrere Wattebäuschchen mit dem Desinfektionsmittel.
»Das ist abgelaufen«, sagt er und deutet mit dem Kopf auf das Desinfektionsmittel, das sie sich auf die Handgelenke und Knöchel gerieben hat.
»Ach, das Zeug hält ewig«, sagt sie. »Glaub mir, das Haltbarkeitsdatum steht da nur drauf, damit man mehr davon kauft. Das ist absolut unbedenklich.«
»Bist du sicher?«
»Aber ja. Ich hab’s doch selbst benutzt, oder?«
Das hat sie, aber da wusste sie noch nicht, dass es abgelaufen ist, und er hat ein schlechtes Gewissen, weil er ihr das nicht gesagt hat, bevor sie es benutzt hat. Er muss sich entscheiden – glaubt er ihr oder nicht? Vertraut er ihr? Ja. Sie ist nett, keine Frage, und netten Menschen kann man trauen.
Er nickt. »Okay, reib mich damit ein.«
Sie lächelt. Er möchte nicht, dass sie je wieder aufhört zu lächeln. Sie drückt zwei Wattebäuschchen gegen seinen Oberschenkel und arbeitet sich langsam nach unten. »Du machst das sehr gut«, sagt sie. »Gleich haben wir’s.«
»Okay.«
»Du solltest das unbedingt nähen lassen, Adrian.«
»Das geht nicht.«
»Dann verarzten wir es, so gut es geht. Ich werde jetzt etwas Verbandsmull zurechtschneiden.«
»Ich mach das.« Er beugt sich zum Bett hinunter und nimmt Verbandsmull und Schere. »Wie groß?«
»Etwas größer als die Wunde.«
»Ach ja, natürlich«. Er schneidet den Verbandsmull zurecht und reicht ihn ihr. Die Schere steckt er in seine Gesäßtasche. Während sie den Mull auf die Wunde drückt, legt sie ihm eine weitere Kompresse an.
»Jetzt musst du ein paar Stückchen Klebeband in der richtigen Länge abschneiden.«
»Wie lang?«
»Etwas länger als die Kompresse.«
Sie reicht ihm das Klebeband. Das Abschneiden ist nicht ganz so leicht, denn er hat immer noch die Pistole in der Hand. Er bereitet mehrere Streifen vor und reicht sie ihr, und sie befestigt damit die Kompresse auf seinem Oberschenkel. Danach lehnt sie sich zurück.
»Sieht gut aus«, sagt sie. »Wie fühlt es sich an?«
»Sehr viel besser«, sagt er und lächelt, und sie lächelt ebenfalls. Wunderbar, einfach wunderbar.
»Okay, und wo ist der Verband?«, fragt sie, dreht sich um und mustert die Sachen auf dem Bett. »Ah, da haben wir ihn ja«, sagt sie und greift danach. »Ich werde ihn dir jetzt anlegen, aller dings nicht zu fest, okay, Adrian? Sag Bescheid, wenn’s wehtut.«
»Das wird es nicht«, sagt er, und sein Herz macht einen Sprung, er mag, wie sie seinen Namen
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