Die Totensammler
noch in der Pistole sind, aber es wäre unklug, sie alle aufzubrauchen, darum hat er aufgehört zu feuern. Er ist sich nicht mal sicher, ob er überhaupt auf seine Sammlung schießen will. Er kann immer noch alles ins Lot bringen. Er muss nur die Zellentür schließen und etwas warten. Und dann könnte er versuchen, ganz, ganz aufrichtig versuchen, ihnen zu verzeihen, und Coopers Mutter oder Katie würde seine Wunden verarzten. Er kann immer noch auf der Veranda den Sonnenaufgang genießen, an einem Morgen mit Cooper, an dem darauf mit Katie.
Wie der Priester zu ihm gesagt hat: Er sollte etwas Vertrauen haben.
Er muss jetzt bloß die Tür schließen.
Er kann sein Bein kaum belasten; er berührt nur mit der Ferse den Boden, während er sich mit der Schulter an der Wand entlangschiebt. Die Pistole hält er vor den Körper, den Lauf auf den Türrahmen des Schreizimmers gerichtet.
Plötzlich tritt ihm Coopers Mutter entgegen. Sie hat die Augen leicht geöffnet, und ihre Gesichtszüge hängen schlaff herab. Sie steht zwar aufrecht, aber ihre Bewegungen sind irgendwie komisch, wie bei einer Marionette im Puppentheater, ihre Gliedmaßen baumeln unkontrolliert hin und her. Sie kommt auf ihn zu, und er weicht zurück. Damit hat er nicht gerechnet. Er richtet die Pistole auf sie, so gut er kann, seine Hände zittern, und sein ganzer Körper tut weh. Mit der freien Hand bedeckt er sein Auge.
»Was wollen Sie?«, fragt er.
Sie antwortet nicht. Er macht erneut einen Schritt zurück und belastet seinen Fuß, knickt um und fällt fast hin.
»Zwingen Sie mich nicht, auf Sie zu schießen«, sagt er mit lauter Stimme, um das Klingeln in seinen Ohren zu übertönen.
Sie kommt näher. Immer näher.
»Zurück«, sagt er.
Er drückt den Abzug. Zweimal. Der erste Schuss geht in die Decke, der zweite trifft ihren Brustkorb. Doch anders als im Film wird sie nicht nach hinten geschleudert, sondern nach vorne. Er schießt erneut auf sie, diesmal in den Bauch, doch sie kommt weiter auf ihn zu. Er hebt die Arme, damit sie ihn nicht schlagen kann, er nimmt sogar die Hand vom Auge, als sie sich auf ihn stürzt. Er taumelt zurück, diesmal kann er mit dem Fuß sein Gewicht nicht mehr abstützen, und kippt hintenüber. Er landet der Länge nach auf dem Boden, den Kopf hochkant gegen die Wand gedrückt. Er schiebt Coopers Mutter von sich fort. Sie rollt neben ihn auf den Boden und starrt von dort zu ihm hoch.
Vor ihm steht Cooper mit wütendem Gesicht. Die Vorderseite seiner Hose ist klitschnass, und sein ganzes T-Shirt ist immer noch mit dem Blut des Mädchens beschmiert, das er vor zwei Nächten getötet hat. Ist das wirklich schon zwei Nächte her? Als Adrians Blick auf seinen Fuß fällt, merkt er, dass der andere verletzte Zeh ebenfalls fehlt, er hat gar nicht mitbekommen, wann er ihn verloren hat.
Er will die Pistole heben, nur dass seine Hand leer ist. Er ist wehrlos, wie damals, als er vor der Schule auf dem Boden lag und angepisst wurde, und er fühlt sich genauso wie damals; wieder weiß er, was als Nächstes passieren wird. Cooper bückt sich, nimmt die Pistole und tritt neben ihn.
»Ich hab Schmerzen«, sagt Adrian. »Bitte, Cooper, hilf mir. Du bist mein bester Freund.«
Cooper geht in die Hocke und drückt den Lauf der Waffe gegen Adrians Brust. Cooper lächelt. Adrian ebenfalls. Alles wird gut. Der Pistolenlauf ist heiß. Einen Moment später hat Adrian das Gefühl, als hätte er einen Herzinfarkt. Jeder Muskel in seinem Körper zieht sich zusammen, und sein Auge tut nicht mehr weh. Alles um ihn herum blitzt grell auf, als würde ihm im Krankenhaus ein Arzt in die Augen leuchten. Ein erneutes Flackern, und der Lauf wird noch heißer. Dann ist es dunkel. Neben seinem Brustkorb bilden sich zwei Blutlachen. Mit dem gesunden Auge sieht er, wie alles um ihn herum langsam verschwindet.
Er betrachtet Katie. In all den Jahren seine geliebte Katie, sie kommt aus dem Zimmer, nackt und wunderschön, er würde sie Cooper nie überlassen, niemals. Der richtet sich auf und geht zu ihr.
Und die letzten Worte, die Adrian hört, sind die, die Cooper zu ihr sagt. »Es gibt da was, das solltest du wissen«, sagt er, wendet Adrian den Rücken zu und richtet die Pistole auf Katie. »Ich war nicht ganz ehrlich zu dir.«
Und dann sieht Adrian sich selbst auf der Veranda sitzen, wie er als alter Mann mit Katie in den Sonnenuntergang schaut, Cooper ist längst aus ihrem Leben verschwunden, das Sonnenlicht wird immer schwächer, bis es Nacht
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