Die Totensammler
liegt echter Schmerz. Ich weiß, wie er sich fühlt, und ich weiß auch, dass ich diesem Mann helfen werde.
»Wenn eine junge Frau wie Emma verschwindet«, sagt er langsam und wohlüberlegt, und es muss schmerzen, das auszusprechen, denn ich weiß, worauf er hinauswill, »gibt es nur eine Möglichkeit, wie sie aufgefunden wird.«
Ich antworte nicht. Er schaut hinauf in die Sonne und kämpft mit den Tränen.
»Wann ist das letzte Mal ein Mädchen in ihrem Alter verschwunden und die Sache fand ein glückliches Ende?«, fragt er.
Ich antworte immer noch nicht. Ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen, und ich möchte ihn auch nicht anlügen. Wenn eine junge Frau wie Emma verschwindet, treibt sie normalerweise ein paar Tage später nackt auf einem Fluss.
»Ich weiß, dass sie wahrscheinlich inzwischen tot ist«, bringt er stockend hervor.
»Ich weiß außerdem, was die Statistik sagt«, fügt er hinzu. »Und meine Frau auch. Sie hat Beruhigungsmittel genommen, sie leidet unter dem Borderline-Syndrom. Die Polizei hat mir erklärt, dass sie in so einem Fall nie sagen kann, ob das Mädchen einfach nur von zu Hause abgehauen ist oder ob sie einen neuen Freund hat, mit dem sie sich irgendwo in einem Liebesnest verkrochen hat. Aber das ist Schwachsinn. Und die Beamten wissen, dass das Schwachsinn ist, wenn sie mir und meiner Frau so was erzählen. Vielleicht ist sie noch am Leben, aber bis die Polizei sie gefunden hat, wird sie tot sein, und wenn ich dann nicht alles in meiner Macht Stehende getan habe … dann … ich weiß nicht. Ich schätze, Sie kennen das, oder?«, sagt er. »Ich schätze, Sie kennen das Gefühl. Also tue ich eben alles, was in meiner Macht steht. Darum bin ich hier. Und darum werden auch Sie alles tun, was möglich ist, das sind Sie mir schuldig, das sind Sie ihr schuldig. Und … und sollte sie, also, tot sein, wird die Polizei denjenigen suchen, der ihr das angetan hat. Aber dann? Ihn für fünfzehn Jahre ins Gefängnis stecken, sodass er nach zehn auf Bewährung wieder rauskommt?«
»Ich weiß, dass das nicht in Ordnung ist, glauben Sie mir, aber so läuft das nun mal«, sage ich.
»Ich weiß. Denken Sie etwa, ich weiß das nicht? Aber das ist nicht richtig, und so muss es nicht laufen. Ich kann mich noch erinnern, was Sie im Wald zu mir gesagt haben. Ich weiß, dass Sie den Mann umgebracht haben, der Ihre Tochter getötet hat. Wieso maßen Sie sich an, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen und sie anderen zu verweigern?«
»Sie müssen mich nicht an meine Tochter erinnern.«
»Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie mir meine fast genommen hätten?« Er schüttelt langsam den Kopf. »Als Sie in sie reingefahren sind, hat ihr Leben einen anderen Verlauf genommen. Und sie hat einen anderen Weg eingeschlagen. Sie sind auf ihre Zeitachse geraten, und statt nach A«, sagt er und tippt zur Veranschaulichung mit seinem linken Zeigefinger auf seinen rechten, »ist sie nach B abgebogen. Dadurch hat sie andere Menschen kennengelernt. Die Ärzte und Leute in der Reha, neue Freunde. Sie konnte drei Monate nicht die Schule besuchen und musste Nachhilfeunterricht nehmen. Letztes Jahr hätte sie beinahe nicht den Highschool-Abschluss geschafft. Und dieses Jahr keine Zulassung für die Uni bekommen. Alles hat sich geändert. Wenn Sie sie nicht verletzt hätten, wäre sie jetzt an einem anderen Punkt, hätte sie andere Menschen kennengelernt. Wenn eine dieser Personen dafür verantwortlich ist, dass sie entführt …«
»Ich hab verstanden«, sage ich und hebe die Hand. Wenn eine dieser Personen sie entführt hat, ist das meine Schuld. Es ist, wie er gesagt hat – ich bin dafür verantwortlich, dass sie nach B abgebogen ist, und vielleicht hat ihr dort im Schatten ein böser Mann aufgelauert.
»Ach ja? Wenn Sie das wirklich verstehen, dann würden Sie mich jetzt fragen, wie Sie mir helfen können. Ich kenne Sie«, sagte er. »Sie wollen das Richtige tun. Und das heißt, Sie müssen nach Emma suchen. Darum werden Sie mir helfen.«
Ich schaue ihn an, doch ich sehe nur seine Tochter, zusammengesackt über dem Lenkrad, während an ihrer Wange Blut hinunterläuft. Ihr Auto ist von Glassplittern umgeben und mein eigener Wagen nur noch ein Haufen Schrott, die Motorhaube hat sich um einen Laternenpfahl gewickelt; von einer Werbetafel starrt ein Jesus auf mich herab, der Wein in Mineralwasser verwandelt, und meine Klamotten und meine Haut stinken nach Alkohol. Ich erinnere mich noch an das Klingen in meinen Ohren und
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